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der Schaffenskraft ist, sich selbst zu wiederholen. Dem kritischen Trieb dagegen verdanken wir jede neue Richtung, die ersteht, jede neue Form, die die Kunst fertig vorfindet, sie auszufüllen. In Wahrheit gibt es keine einzige Form unter denen, deren sich die Kunst heute bedient, die nicht von dem kritischen Geiste Alexandrias her zu uns gekommen ist, wo diese Formen entweder stereotyp gemacht oder erfunden oder vollendet wurden. Ich sage Alexandria, nicht bloß, weil da der griechische Geist seine größte Bewußtheit erlangte und in der Tat schließlich in Skeptizismus und Theologie zugrunde ging, sondern weil Rom aus dieser Stadt, nicht aber aus Athen seine Vorbilder holte, und durch das freilich verderbte Weiterleben der lateinischen Sprache blieb die Kultur überhaupt lebendig. Als in der Renaissance die griechische Literatur in Europa auferstand, war der Boden für sie einigermaßen vorbereitet. Aber sehen wir von den Einzelheiten der Geschichte ab, die immer langweilig und meistens ungenau sind, sagen wir vielmehr im allgemeinen, daß wir die Formen der Kunst dem griechischen Geist der Kritik verdanken. Ihm verdanken wir das Epos, die Lyrik, das ganze Drama in jeder einzelnen Gestalt, die Burleske nicht ausgeschlossen, das Idyll, den romantischen Roman und den Abenteurerroman, den Essay, den Dialog, die Rede, den belehrenden Vortrag – den wir ihnen vielleicht nicht verzeihen sollten – und das Epigramm in der weiten Bedeutung des Wortes. Wirklich, wir verdanken ihm alles, außer dem Sonett, zu dem man aber in der Anthologie einige bemerkenswerte Parallelen hinsichtlich des Aufbaus der Gedanken verfolgen könnte, dem amerikanischen Journalismus, zu dem nirgends eine Parallele gefunden werden kann, und der Ballade im pseudoschottischen Dialekt,

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/82&oldid=- (Version vom 1.8.2018)