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haben wenigstens den Reiz, einen unbefriedigt zu lassen.

Ernst: Versuch eine von meinen. Sie sind recht gut. Ich bekomme sie direkt von Kairo. Der einzige Nutzen unserer Attachés ist, daß sie ihre Freunde mit trefflichem Tabak versorgen. Und wenn sich der Mond versteckt hat, wollen wir noch etwas weiter reden. Ich gebe bereitwillig zu, daß ich mit dem, was ich über die Griechen sagte, im Unrecht war. Sie waren, wie du betontest, ein Volk von Kunstkritikern. Ich erkenne es an, aber es stimmt mich etwas traurig für sie. Denn die schöpferische Gabe steht höher als die kritische. Es gibt wirklich keinen Vergleich zwischen ihnen.

Gilbert: Die Gegenüberstellung der beiden ist ganz willkürlich. Ohne die Gabe der Kritik gibt es überhaupt kein künstlerisches Schaffen, das den Namen verdient. Vorhin sprachst du von dem schönen Geist der Komposition und dem ungemein sicheren Sinn für Auswahl, durch den der Künstler uns das Leben vergegenwärtigt und ihm seine momentane Vollendung gibt. Nun, dieser Geist der Komposition, dieser genaue Takt des Weglassens ist in der Tat die Gabe der Kritik in einer ihrer charakteristischsten Formen, und wer nicht diese Gabe der Kritik besitzt, kann überhaupt nichts Künstlerisches schaffen. Arnolds Definition der Literatur als Kritik des Lebens war nicht sehr glücklich in der Form, aber sie zeigt, wie scharf er die Bedeutung des kritischen Elements in allen schöpferischen Werken erfaßt hatte.

Ernst: Ich dachte, die großen Künstler arbeiteten unbewußt, sie seien „weiser als sie wissen“, wie, glaube ich, Emerson einmal sagt.

Gilbert: Es ist wirklich nicht so, Ernst. Jedes echte Werk der Phantasie ist bewußt und überlegt. Kein

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/79&oldid=- (Version vom 1.8.2018)