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ihnen sehr stattliche Gehälter für die Abfassung lobender Notizen. Alles, was in unserm Leben modern ist, verdanken wir den Griechen. Alles, was ein Anachronismus ist, verdanken wir dem Mittelalter. Die Griechen sind es, die uns das ganze System der Kunstkritik gegeben haben, und wie fein ihr kritischer Instinkt war, kann aus der Tatsache ersehen werden, daß das Material, das sie besonders eingehend kritisierten, wie ich schon sagte, die Sprache war. Denn das Material, das der Maler oder Bildhauer benutzt, ist mager im Vergleich mit dem der Worte. Die Worte haben nicht nur Musik, die süß ist, wie die der Bratsche und Laute, Farbe, die so reich und lebendig ist wie die, die uns die Leinwand der Venezianer oder Spanier so schön macht, und plastische Form, die nicht weniger fest und bestimmt ist wie die, die sich in Marmor oder Bronze offenbart, sondern ihnen eignet auch Gedanke und Leidenschaft und Geistigkeit, und ihnen einzig und allein. Wenn die Griechen nichts als die Sprache kritisiert hätten, wären sie schon darum die großen Kunstkritiker der Welt. Wer die Prinzipien der höchsten Kunst kennt, kennt die Prinzipien jeder Kunst.

Aber ich sehe, der Mond verbirgt sich hinter einer schwefelfarbenen Wolke. Aus einer wettergelben Wolkenmähne glüht er wie das Auge eines Löwen. Er hat Angst, ich könnte dir auch noch von Lucian und Longinus, von Quinctilian und Dionysius, von Plinius und Fronto und Pausanias sprechen, von all den vielen, die in der antiken Welt über Dinge der Kunst schrieben oder redeten. Er kann sich beruhigen. Ich bin müde von meinem Ausflug in den trübseligen, öden Abgrund der Tatsachen. Mir bleibt nichts anderes übrig als die göttliche μονόχρονος ἡδονή einer frischen Zigarette. Zigaretten

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/78&oldid=- (Version vom 1.8.2018)