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der schreckliche Gedanke über mich, ich könne mich der unmoralischen Weibischkeit schuldig gemacht haben, trochäische und tribrachische Rhythmen zu benutzen, um welchen Verbrechens willen ein gelehrter Kritiker des Augusteischen Zeitalters mit sehr gerechter Strenge den glänzenden, wenn schon etwas paradoxen Hegesias tadelt. Mich überläuft es kalt, wenn ich daran denke, und ich fürchte im stillen, der prachtvolle sittliche Einfluß der Prosa des entzückenden Autors, der einmal in einer Stunde sorgloser Nachsicht gegen den ungebildeten Teil unserer Gesellschaft die ungeheuerliche Lehre verkündet hat, das Benehmen sei drei Viertel des Lebens, könne eines Tages gänzlich vernichtet werden, wenn man die Entdeckung macht, seine Päone seien falsch gebaut.

Ernst: Ah! Jetzt bist du ins Reden gekommen!

Gilbert: Wer wollte nicht ins Reden kommen, wenn man ihm im Ernst sagt, die Griechen hätten keine Kunstkritiker gehabt? Ich kann es verstehen, wenn jemand sagt, der konstruktive Geist der Griechen habe sich in Kritik verloren, aber nicht, wenn er sagt, das Volk, dem wir den kritischen Geist verdanken, habe keine Kritiker gehabt. Du wirst nicht verlangen, daß ich dir einen Überblick über die griechische Kunstkritik von Platon bis Plotin gebe. Es ist ein zu schöner Abend dafür, und wenn uns der Mond hörte, würde sein Antlitz aschenhafter werden als es jetzt ist. Aber denk nur an ein einziges kleines Werk ästhetischer Kritik, Aristoteles’ Abhandlung über die Poesie. Sie ist in der Form nicht vollendet, denn sie ist schlecht geschrieben und besteht vielleicht aus Notizen, die für einen Vortrag rasch hingeworfen sind, oder aus vereinzelten Bruchstücken, die für ein größeres Buch bestimmt waren,

Empfohlene Zitierweise:
Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/74&oldid=- (Version vom 1.8.2018)