Seite:Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben.pdf/73

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

nur, daß der große Dichter immer ein Seher ist, der weniger mit den Augen des Körpers als mit den Augen der Seele sieht, sondern daß er auch in Wahrheit ein Sänger ist, der seinen Gesang aus der Musik aufbaut, der jede Zeile sich selber wieder und wieder wiederholt, bis er das Geheimnis ihrer Melodie erfaßt hat; der in der Dunkelheit die Worte singt, die vom Lichte beflügelt sind. Ob dies so ist oder nicht, die Blindheit war der Anlaß, wenn nicht die Ursache, der Englands größter Poet viel von dem majestätischen Flusse und dem klingenden Glanze seiner späteren Verse verdankt. Als Milton nicht mehr schreiben konnte, fing er zu singen an. Wer wollte die Metren des „Comus“ denen des „Samson Agonistes“ gleichstellen oder das „Verlorene Paradies“ dem Fluß der Verse im „Wiedergewonnenen Paradies“? Als Milton blind geworden war, komponierte er, wie jeder komponieren sollte, nur mit der Stimme, und so verwandelte sich die Pfeife oder das Rohr früherer Tage in die mächtige Orgel mit den vielen Registern, deren reiche rauschende Musik all die Pracht des homerischen Verses hat, wenn sie nicht seinen geschwinden Fluß zu haben sucht, und das eine unvergängliche Erbe der englischen Literatur ist, das durch alle Jahrhunderte hindurchgeht, weil es über ihnen steht, und das immer bei uns bleibt, weil es in seiner Form unsterblich ist. Ja fürwahr: das Schreiben hat den Schriftstellern viel Schaden getan. Wir müssen zur Stimme zurückkehren. Das muß unser Prüfstein sein, und vielleicht werden wir dann imstande sein, einige der Subtilitäten der griechischen Kunstkritik zu verstehen.

Wie es jetzt steht, können wir es nicht. Manchmal, wenn ich ein Stück Prosa geschrieben habe, das ich in meiner Bescheidenheit für völlig untadelhaft halte, kommt

Empfohlene Zitierweise:
Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/73&oldid=- (Version vom 1.8.2018)