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andern Jahrhundert vorbehalten ist. In keinem Fall bildet sie ihre eigene Zeit nach. Von der Kunst einer Zeit auf die Zeit selbst zu schließen, ist der große Fehler, den alle Historiker begehen.

Die zweite Lehre lautet: Alle schlechte Kunst kommt von der Rückkehr zu Leben und Natur und davon, daß diese zwei zu Idealen erhoben werden. Leben und Natur mögen manchmal als Teile des Rohmaterials der Kunst benutzt werden, aber ehe sie der Kunst irgend wirklichen Dienst tun können, müssen sie in künstlerische Konvention verwandelt werden. In dem Augenblick, wo die Kunst ihr Medium der Phantasie aufgibt, gibt sie alles auf. Als Methode hat der Realismus völlig Schiffbruch gelitten, und zwei Dinge müßte jeder Künstler vermeiden: moderne Form und modernen Stoff. Für uns, die im neunzehnten Jahrhundert leben, ist jedes Jahrhundert ein passender Vorwurf für die Kunst außer unserm eigenen. Die einzigen schönen Dinge sind die Dinge, die uns nichts angehen. Gerade weil – mit Vergnügen zitiere ich mich selbst – Hekuba uns nichts bedeutet, ist ihr Schmerz ein so schönes Motiv für eine Tragödie. Außerdem gibt es nur eines, was je aus der Mode kommen kann: das Moderne. Zola setzt sich hin, um uns eine Schilderung vom zweiten Kaiserreich zu geben. Wer kümmert sich jetzt um das zweite Kaiserreich? Es ist veraltet. Das Leben geht schneller voran als der Realismus, aber die Romantik geht immer dem Leben voraus.

Die dritte Lehre heißt: Das Leben ahmt die Kunst weitaus mehr nach als die Kunst das Leben. Das ergibt sich nicht nur aus dem Nachahmungstrieb des Lebens, sondern vor allem aus der Tatsache, daß es das bewußte Ziel des Lebens ist, Ausdruck zu finden, und daß die

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/52&oldid=- (Version vom 1.8.2018)