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eines Landes nichts Besseres denken als das Vorhandensein einer Körperschaft von Männern, deren Beruf es ist, an das Übernatürliche zu glauben, täglich Wunder zu tun und die mythenschaffende Fähigkeit lebendig zu halten, die für die Phantasie so wesentlich ist. Aber in unserer Kirche hat ein Mann nicht durch seine Fähigkeit zu glauben Erfolg, sondern trotz seiner Fähigkeit zum Unglauben. Wir haben die einzige Kirche, wo der Skeptiker am Altar steht und wo St. Thomas als Idealapostel betrachtet wird. Manch würdiger Geistlicher, der sein Leben in schönen Werken hilfreicher Barmherzigkeit verbringt, lebt und stirbt unbeachtet und unbekannt; aber es braucht nur ein seichter, unerzogener Laffe von irgend einer Universität zu kommen, auf seine Kanzel zu steigen und seine Zweifel an Noahs Arche oder Bileams Esel oder Jonas und den Walfisch auszusprechen, damit halb London zusammenströmt, um ihn zu hören und mit offenem Munde in heller Begeisterung über seinen mächtigen Geist dazusitzen. Das Heraufkommen des gesunden Menschenverstandes in unserer Kirche ist eine tief bedauerliche Erscheinung. Es ist in der Tat ein beschämendes Zugeständnis an eine niedrige Art Realismus. Es ist auch dumm. Es entspringt einer völligen Unkenntnis der Psychologie. Der Mensch kann das Unmögliche glauben, aber niemals das Unwahrscheinliche. Indessen genug davon; du sollst den Schluß des Artikels hören:

„Was wir zu tun haben, was in jedem Fall die Pflicht von uns fordert, das ist die Wiederbelebung der alten Kunst des Lügens. Vieles natürlich zur Erziehung des Publikums kann von Dilettanten im häuslichen Kreise, etwa bei einem literarischen Frühstück oder beim Nachmittagstee getan werden. Aber das ist bloß die leichte

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/48&oldid=- (Version vom 1.8.2018)