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was sagst du zu denen? Gewiß gleichen sie doch den Menschen, die sie wiedergeben wollen.

Vivian: Ganz recht. Sie gleichen ihnen so sehr, daß nach hundert Jahren kein Mensch an sie glauben wird. Die einzigen Porträts, an die man glaubt, sind die, in denen sehr wenig von dem Porträtierten und sehr viel von dem Künstler zu finden ist. Holbeins Bilder von den Männern und Frauen seiner Zeit rufen in uns den Eindruck ihrer völligen Wirklichkeit hervor. Aber das kommt nur daher, daß Holbein das Leben zwang, sich seinen Bedingungen zu fügen, sich innerhalb seiner Beschränkung zu halten, seinen Typus wiederzugeben und so zu erscheinen, wie er es wollte. Der Stil ist es, der uns an eine Sache glauben läßt – nichts als der Stil. Unsere meisten modernen Bildnismaler sind dazu bestimmt, völlig vergessen zu werden. Sie malen nie, was sie sehen. Sie malen, was das Publikum sieht, und das Publikum sieht nie etwas.

Cyrill: Schön. Nun wäre es mir recht, den Schluß deines Artikels zu hören.

Vivian: Mit Vergnügen. Ob er irgend etwas nützen wird, kann ich wirklich nicht sagen. Unser Jahrhundert ist wirklich von allen das trübseligste und prosaischste. Wahrhaftig, sogar der Schlaf hat sein Antlitz vertauscht und hat die Elfenbeintore verschlossen und die Tore aus Horn geöffnet. Die Träume der großen Mittelklassen in England sind, wie aus den zwei umfangreichen Bänden des Herrn Myers über den Gegenstand und den Verhandlungen der Physiologischen Gesellschaft hervorgeht, das tristeste, wovon ich je gelesen habe. Nicht einmal ein anständiger Alpdruck findet sich darunter. Es sind Dutzendträume, voller Häßlichkeit und Langerweile. Was die Kirche angeht, so kann ich mir für die Kultur

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/47&oldid=- (Version vom 1.8.2018)