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wir bilden uns ein, in diesen grausamen Lippen und wollüstigen Kinnbacken fänden wir das Geheimnis des Untergangs des römischen Reiches. Aber das war es nicht. Die Laster des Tiberius konnten diese höchste Zivilisation nicht zerstören, so wenig wie die Tugenden der Antonine sie retten konnten. Das Reich versank aus andern, weniger interessanten Gründen. Die Sibyllen und Propheten der Sistina können in der Tat dem oder jenem dienlich sein, die Wiedergeburt des freigewordenen Geistes zu versinnlichen, die wir Renaissance nennen; aber was künden uns die betrunkenen Lümmel und brüllenden Bauern der holländischen Kunst von der großen Seele der Niederländer? Je abstrakter, je idealer eine Kunst ist, um so mehr enthüllt sie uns den Zustand ihrer Zeit. Wenn wir ein Volk mittelst seiner Kunst verstehen wollen, müssen wir seine Architektur oder seine Musik ins Auge fassen.

Cyrill: Da stimme ich dir völlig zu. Der Geist einer Zeit kann am besten in den abstrakten, idealen Künsten seinen Ausdruck finden, denn der Geist ist selber abstrakt und ideal. Andrerseits müssen wir natürlich, wenn wir die Sichtbarkeit einer Zeit, ihre Erscheinung, wie man wohl sagt, uns vergegenwärtigen wollen, uns an die imitativen Künste wenden.

Vivian: Ich denke nicht so. Was uns die imitativen Künste überhaupt geben, sind in Wirklichkeit bloß die verschiedenen Stile der einzelnen Künstler oder gewisser Schulen. Gewiß bildest du dir nicht ein, die Menschen des Mittelalters hätten die geringste Ähnlichkeit gehabt mit all den Gestalten auf mittelalterlichen Glasgemälden oder in der mittelalterlichen Stein- und Holzbildhauerei, oder mit den Bildnissen aus Metall oder auf Stickereien oder in illuminierten Manuskripten. Es waren wahrscheinlich

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/44&oldid=- (Version vom 1.8.2018)