Seite:Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben.pdf/40

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

bekommen wir diese prachtvollen braunen Nebel, die sich über unsere Straßen lagern, die Gasflammen verlöschen und die Häuser in gespenstische Schatten verwandeln? Wem verdanken wir, wenn nicht ihnen und ihrem Meister, die lieblichen Silberdünste, die über unserm Flusse schweben und die Bogenbrücke und die schwankenden Boote zu verhauchten Formen verblichener Grazie machen? Die außerordentliche Veränderung, die das Klima Londons in den letzten zehn Jahren aufweist, ist gänzlich dieser besonderen Richtung in der Kunst zu verdanken. Du lächelst. Betrachte die Sache vom wissenschaftlichen oder metaphysischen Standpunkt, und du wirst sehen, daß ich recht habe. Was ist denn die Natur? Sie ist nicht eine große Mutter, die uns geboren hat. Sie ist unsere Schöpfung. In unserm Hirn erwacht sie zum Leben. Es gibt Dinge, weil wir sie sehen, und was wir sehen und wie wir es sehen, hängt von den Künsten ab, unter deren Einfluß wir gestanden haben. Auf ein Ding blicken, ist noch lange nicht dasselbe, wie ein Ding sehen. Kein Ding sieht man, ehe man seine Schönheit sieht. Da, und allein da, erlangt es ein Sein. Jetzt sehen die Menschen Nebel, nicht weil Nebel da sind, sondern weil Dichter und Maler sie die geheimnisvolle Schönheit solcher Stimmungseffekte gelehrt haben. Es mag in London seit Jahrhunderten Nebel gegeben haben. Ich darf wohl sagen, daß sie da waren. Aber niemand sah sie, und so wissen wir gar nichts von ihnen. Sie hatten kein Sein, bis die Kunst sie erfunden hatte. Jetzt, muß man zugeben, gibt es Nebel zum Überdruß. Sie sind die leidige Manier einer Clique geworden, und vom übertriebenen Realismus ihrer Technik holen sich beschränkte Menschen eine Bronchitis. Wo sich die Gebildeten ästhetisch erwärmt fühlen, erkälten sich die

Empfohlene Zitierweise:
Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/40&oldid=- (Version vom 1.8.2018)