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Heldin kam. Sie glich meiner Freundin so sehr, daß ich ihr das Blatt brachte, und sie erkannte sich sofort in der Gestalt und war von der Ähnlichkeit entzückt. Nebenbei muß ich bemerken, daß die Erzählung aus dem Russischen übersetzt war, und daß der verstorbene Verfasser meine Freundin nicht zum Modell genommen haben konnte. Nun, um es kurz zu machen, ein paar Monate später war ich in Venedig, fand die Zeitschrift im Lesezimmer des Hotels und las einmal darin, um zu sehen, was aus der Heldin geworden sei. Es war eine sehr klägliche Geschichte, denn das Ende des Mädchens war, daß sie mit einem Manne durchging, der nicht nur in sozialer Stellung, sondern auch im Charakter und Intellekt tief unter ihr stand. Ich schrieb an diesem Abend an meine Freundin, teilte ihr meine Ansichten über Giovanni Bellini und das köstliche Gefrorene bei Florio und die künstlerische Bedeutung der Gondeln mit, fügte aber eine Nachschrift des Inhalts hinzu, ihre Doppelgängerin in der Geschichte habe sich höchst töricht benommen. Ich weiß nicht, weshalb ich das anfügte, aber ich erinnere mich, es beherrschte mich eine Art Angst, sie könnte das nämliche tun. Noch ehe mein Brief in ihre Hände gekommen war, war sie mit einem Mann durchgebrannt, der sie nach einem halben Jahr verließ. Ich sah sie im Jahre 1884 in Paris, wo sie mit ihrer Mutter lebte, und ich fragte sie, ob die Erzählung irgend etwas mit ihrem Tun zu schaffen gehabt hätte. Sie antwortete mir, sie hätte ein unwiderstehliches Verlangen gehabt, der Heldin Schritt für Schritt auf ihrem seltsamen und verhängnisvollen Pfade zu folgen, und mit einem Gefühl wahrhaften Entsetzens habe sie die letzten paar Kapitel der Erzählung erwartet. Als sie erschienen, empfand sie, daß sie sie im Leben

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/38&oldid=- (Version vom 1.8.2018)