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was wir an diesem Knaben gewahren, wird in ausgedehntem Maße durch das ganze Leben hindurch wiederholt. Schopenhauer hat den Pessimismus, der für das Denken unserer Zeit bezeichnend ist, in ein wissenschaftliches System gebracht, aber Hamlet hat ihn erfunden. Die Welt ist schwermütig geworden, weil einstmals eine Puppe melancholisch war. Der Nihilist, dieser seltsame Märtyrer, der keinen Glauben hat und ohne Begeisterung zum Richtplatz geht und für etwas stirbt, woran er nicht glaubt, ist ein rein literarisches Produkt. Turgenjew hat ihn erfunden und Dostojewsky fertig gemacht. Robespierre entsprang den Büchern Rousseaus so gewiß wie das Volkshaus in London, The People’s Palace, aus den Überresten eines Romans hervorging. Die Literatur nimmt immer das Leben voraus. Sie ahmt es nicht nach, sondern sie modelt es im Gegenteil nach ihren Zwecken. Das neunzehnte Jahrhundert, wie wir es kennen, ist zu großem Teil eine Erfindung Balzacs. Unsere Lucians de Rubempré, unsere Rastignacs und de Marsays treten zuerst auf der Bühne der Comédie Humaine auf. Wir führen nur mit Anmerkungen und überflüssigen Zusätzen die Laune oder Phantasie oder schöpferische Vision eines großen Romanschreibers weiter aus. Ich fragte einmal eine Dame, die Thackeray nahe gestanden hatte, ob er für „Becky Sharp“ irgend ein Modell gehabt hätte. Sie erzählte mir, „Becky“ sei ein Produkt der Erfindung, jedoch sei die Anlage des Charakters zum Teil von einer Gouvernante genommen, die in der Nähe von Kensington Square als Gesellschafterin einer sehr selbstsüchtigen reichen alten Frau lebte. Ich erkundigte mich, was aus der Gouvernante geworden sei, und erfuhr, daß sie absonderlicherweise einige Jahre, nachdem „Vanity Fair“ erschienen war, mit dem Neffen

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/35&oldid=- (Version vom 1.8.2018)