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kann. Daher kam ihre Verurteilung des Realismus. Sie mißbilligten ihn rein aus sozialen Gründen. Sie fühlten, daß er unweigerlich das Volk verhäßlicht, und sie waren völlig im Recht. Wir versuchen, die Beschaffenheit des Volkes vermittelst guter Luft, vieler Sonne, gesunden Wassers und häßlicher kahler Gebäude für die bessere Behausung der unteren Klassen zu verbessern. Aber diese Dinge schaffen nur Gesundheit, sie schaffen nicht Schönheit. Dazu ist Kunst nötig, und die wahren Jünger des großen Künstlers sind nicht seine Ateliernachahmer, sondern die, die wie seine Gestalten werden, seien es Werke der Skulptur wie in den Tagen der Griechen, oder der Malerei wie in unserer Zeit: mit einem Wort, das Leben ist der beste, ist der einzige Schüler der Kunst.

Und wie mit den sichtbaren Künsten ist es mit der Literatur. Am deutlichsten und häufigsten zeigt sich das an den törichten kleinen Burschen, die die Abenteuer von Jack Sheppard oder Dick Turpin gelesen haben und dann hingehen, die Stände armer Apfelfrauen plündern, bei Nacht in Konditoreien einbrechen und alte Herren in Angst jagen, denen sie auf entlegenen Straßen mit schwarzen Masken und ungeladenen Revolvern entgegenspringen. Diese interessante Erscheinung, die sich immer nach dem Erscheinen einer neuen Auflage solcher Bücher zeigt, wird gewöhnlich auf den Einfluß der Literatur auf die Phantasie zurückgeführt. Das ist aber ein Irrtum. Die Phantasie ist in ihrem Wesen schöpferisch und sucht immer nach einer neuen Form. Der Räuberknabe ist lediglich das unvermeidliche Ergebnis aus dem Nachahmungstrieb des Lebens. Er ist die Tatsache, die – wie die Tatsachen meistens – mit dem Versuch beschäftigt ist, die Dichtung nachzubilden, und

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/34&oldid=- (Version vom 1.8.2018)