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bedingungslose Unveränderlichkeit. Sie kann nach Laune Wunder schaffen, und wenn sie Ungeheuer aus den Grüften ruft, kommen sie herauf. Auf ihr Geheiß blüht der Mandelbaum mitten im Winter und der Schnee rieselt aufs gelb wogende Kornfeld herab. Sie befiehlt, und die Kälte legt ihre silbernen Finger auf die brennenden Lippen des Juni, und die geflügelten Löwen entsteigen den Höhlen der lydischen Berge. Die Dryaden lugen aus dem Dickicht, wenn sie vorübergeht, und die gebräunten Faune lächeln ihr seltsam zu, wenn sie ihnen nahe kommt. Götter mit Raubvogelgesichtern dienen ihr in Verehrung, und die Kentauren sprengen ihr kühn zur Seite.“

Cyrill: Das gefällt mir. Ich sehe es vor mir. Ist das der Schluß?

Vivian: Nein. Es folgt noch ein Absatz, der aber nur die Nutzanwendung gibt. Er weist nur auf etliche Mittel hin, durch die wir die verlorene Kunst des Lügens wieder beleben können.

Cyrill: Dann hätte ich den Wunsch, bevor du fertig liest, dir eine Frage zu stellen. Was meinst du damit, daß du sagst, das Leben, „das arme, wahrscheinliche, uninteressante Menschenleben“, werde versuchen, die Wunder der Kunst nachzubilden? Daß du dich dagegen auflehnst, daß die Kunst als Spiegel betrachtet wird, kann ich völlig verstehen. Du meinst, das Genie werde dadurch zu einer zerplatzten Spiegelscheibe herabgewürdigt. Aber du wirst doch gewiß nicht behaupten wollen, das Leben ahme die Kunst nach, das Leben sei tatsächlich der Spiegel und die Kunst die Wirklichkeit?

Vivian: O ja, das behaupte ich allerdings. So paradox es scheinen mag – und es ist immer etwas Gefährliches um Paradoxien – es ist nichtsdestoweniger wahr,

Empfohlene Zitierweise:
Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/32&oldid=- (Version vom 1.8.2018)