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Wir haben nicht die geringste Sympathie mit der moralischen Entrüstung unserer Zeit gegen Zola. Das ist lediglich die Entrüstung des entlarvten Tartuffe. Aber was kann vom Standpunkt der Kunst zugunsten des Verfassers von „L’Assommoir“, „Nana“ und „Pot-Bouille“ gesagt werden? Nichts. Ruskin sagte einst von den Charakteren in George Eliots Romanen, sie seien wie der Kehricht aus einem Vorstadtomnibus, aber Zolas Charaktere sind viel schlimmer. Sie haben ihre öden Laster und ihre öderen Tugenden. Der Bericht über ihr Leben ist völlig ohne Interesse. Wer kümmert sich darum, was ihnen geschieht? In der Literatur verlangen wir Erlesenheit, Anmut, Schönheit und schöpferische Phantasie. Wir wollen nicht von Berichten über das Treiben der niederen Stände gemartert und angewidert sein. Daudet ist besser. Er hat Witz, eine leichte Hand und eine vergnügliche Art zu schreiben. Aber er hat vor kurzem literarischen Selbstmord begangen. Niemand kann noch künftighin an seinem „Delobelle“ mit seinem „Il faut lutter pour l’art“ Anteil nehmen oder an „Valmajour“ mit seinem ewigen Refrain von der Nachtigall, oder an dem Dichter in „Jack“ mit seinen „mots cruels“, nachdem wir jetzt aus „Vingt ans de ma vie littéraire“ ersehen, daß diese Gestalten unmittelbar dem Leben entnommen sind. Uns scheinen sie plötzlich all ihre Lebendigkeit, alle spärlichen Qualitäten, die sie je besessen haben, verloren zu haben. Die einzigen wirklichen Menschen sind die Menschen, die nie gelebt haben; und wenn ein Romanschreiber so arm ist, daß er das Leben aufsucht, um seine Personen zu finden, sollte er mindestens vorgeben, sie seien Erfindungen, und nicht damit prahlen, daß sie Kopien sind. Die Rechtfertigung einer Romangestalt ist nicht, daß andere

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/16&oldid=- (Version vom 1.8.2018)