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geahnt haben, die, wie der Verfasser von „Le Rouge et le Noir“, die Seele an ihren geheimsten Orten aufspüren und das Leben seine liebsten Sünden beichten lassen wollten. Jedoch, Hintergründe, die noch neu und unverbraucht sind, gibt es auch nur in beschränkter Zahl, und es ist möglich, daß die Weiterentwickelung der Gewohnheit der Innenforschung für das schöpferische Talent verhängnisvoll wird, dem sie ein neues Stoffgebiet schaffen soll. Ich für meine Person bin geneigt zu glauben, daß dem Schaffen das Urteil gesprochen ist. Es entspringt aus einem zu primitiven, zu natürlichen Triebe. Wie dem auch sei, das ist sicher, daß sich die Gegenstände, die der schaffenden Kunst zu Gebote stehen, ständig vermindern, während der Gegenstand der Kritik täglich anwächst. Der ewig bewegliche Geist findet immer neue Stellungen und neue Gesichtspunkte. Die Aufgabe, das Chaos durch Form zu binden, wird, wie die Welt weiter geht, nicht geringer. Es hat nie eine Zeit gegeben, wo die Kritik nötiger war als heutzutage. Nur mit ihrer Hilfe kann sich die Menschheit des Punkts bewußt werden, auf dem sie angelangt ist.

Vor einigen Stunden fragtest du mich, Ernst, nach dem Nutzen der Kritik. Du hättest mich ebensowohl nach dem Nutzen des Denkens fragen können. Die Kritik schafft, wie Arnold hervorhebt, die geistige Atmosphäre der Zeit. Die Kritik macht, wie ich selbst eines Tages darzutun hoffe, den Geist zu einem feinen Werkzeug. Wir haben in unserm Erziehungssystem das Gedächtnis mit einer Masse unzusammenhängender Tatsachen beladen und haben uns mühselig angestrengt, unser mühsam erworbenes Wissen weiterzugeben. Wir lehren die Menschen, wie sie sich erinnern können, wir lehren sie nie, wie sie wachsen können. Es ist uns nie eingefallen,