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mühsam weiterschleppten, abgetreten worden, und sie haben das Element der Neuheit und Überraschung verloren, das der Dichtung so not tut. Wer uns jetzt im Roman ergreifen will, muß uns entweder einen völlig neuen Hintergrund geben, oder er muß uns die Menschenseele in ihrem innersten Wirken offenbaren. Das erste hat augenblicklich bei uns Rudyard Kipling getan. Wenn man in seinen „Plain Tales from the Hills“ liest, ist es einem, als säße man unter einem Palmbaum und läse unter prächtigen Blitzen banaler Gewöhnlichkeit vom Leben. Die schreienden Farben der Basare blenden das Auge. Die Anglo-Indier, abgehetzte Dutzendmenschen, wie sie sind, stehen in entzückendem Mißverhältnis zu ihrer Umgebung. Schon die Stillosigkeit des Erzählers gibt dem, was er uns berichtet, einen krausen Journalistenrealismus. Vom literarischen Standpunkt ist Herr Kipling ein Genie der Vorstadtsprache. Vom Standpunkt des Lebens ist er ein Reporter, der das gewöhnliche Volk besser kennt als irgend jemand vorher. Dickens kannte seine Kleider und seine Komik. Kipling kennt sein Wesen und seinen Ernst. Er ist unsere erste Autorität für Dutzendmenschen und hat erstaunliche Dinge durch Schlüssellöcher gesehen, und seine Hintergründe sind wirkliche Kunstwerke. Was die zweite Möglichkeit angeht, so haben wir Browning gehabt, und Meredith lebt uns noch. Aber auf dem Gebiete der Innenschau ist noch viel zu tun. Man sagt manchmal, die Romane werden zu pathologisch. Soweit die Psychologie in Betracht kommt, sind sie noch nie pathologisch genug gewesen. Wir haben nur die Oberfläche der Seele berührt, weiter nichts. In einer einzigen Elfenbeinzelle des Gehirns sind mehr wunderbare und schreckliche Dinge aufgehäuft als selbst die