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eines Werkes, das nicht sein eigenes ist, nicht erkennen?

Gilbert: Ja, das ist unmöglich. Wordsworth sah in Keats „Endymion“ nur ein hübsches Stück Heidentum, und Shelley mit seiner Abneigung gegen Aktualität war taub gegen das, was Wordsworth zu künden hatte, und fühlte sich von seiner Form abgestoßen, und Byron, dieser große, leidenschaftliche, menschliche, unvollkommene Mann, konnte weder den Wolkendichter noch den Seedichter verstehen, und Keats Zauber offenbarte sich ihm ebenso wenig. Der Realismus des Euripides war dem Sophokles verhaßt. In diesem Rinnen warmer Tränen lag keine Musik für ihn. Milton, mit seinem Sinn für großen Stil, konnte die Art Shakespeares nicht verstehen, ebensowenig wie Reynolds die Art Gainsboroughs. Schlechte Künstler bewundern immer gegenseitig ihre Werke. Das heißen sie, einen weiten Geist haben und vorurteilsfrei sein. Aber ein wahrhaft großer Künstler kann nicht fassen, wie man das Leben anders zeigen oder die Schönheit anders gestalten könne, als er es erwählt hat. Das Schaffen verbraucht all seine kritische Gabe auf seinem eigenen Gebiet. Es kann sie nicht auf dem Gebiet, das andern gehört, anwenden. Genau darum, weil jemand eine Sache nicht tun kann, ist er der rechte Richter für sie.

Ernst: Meinst du das im Ernst?

Gilbert: Ja, denn das Schaffen beschränkt, aber die Beschaulichkeit erweitert den Blick.

Ernst: Aber wie steht es mit der Technik? Sicher hat doch jede Kunst ihre besondere Technik?

Gilbert: Gewiß; jede Kunst hat ihre Grammatik und ihr Material. Keine hat ein Geheimnis an sich, und der Nichtfachmann kann immer das Rechte treffen. Aber