Seite:Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben.pdf/140

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

eine festgesetzte Denksitte oder starr gewordene Anschauungsart sich selber beschränke. Er verwirklicht sich in vielen Formen und auf tausend verschiedenen Wegen und ist immer neugierig auf neue Erlebnisse seiner Sinne und andere Standpunkte. Durch fortwährende Wandlung und allein dadurch findet er seine wahre Einheit. Er wird nie darein willigen, Sklave seiner eigenen Meinungen zu sein. Denn was ist Geist anders als Bewegung im Gebiete des Geistes? Das Wesen des Denkens wie das Wesen des Lebens ist Wachstum. Du mußt dich nicht durch Worte erschrecken lassen, Ernst. Was die Menschen Unehrlichkeit nennen, ist einfach ein Verfahren, durch das wir die Personen in uns vervielfachen können.

Ernst: Ich fürchte, ich bin mit den Attributen, die ich angab, nicht glücklich gewesen.

Gilbert: Von den drei Eigenschaften, die du nanntest, waren zwei, wenn nicht gänzlich moralisch, doch mindestens auf dem Grenzgebiet der Moral, und die erste Bedingung für die Kritik ist, daß der Kritiker einsehen kann, daß das Gebiet der Kunst und das Gebiet der Moral völlig getrennt und verschieden sind. Wenn sie durcheinander gebracht werden, bricht das Chaos wieder herein. Sie werden bei uns jetzt zu oft durcheinander gebracht, und obwohl unsre modernen Puritaner ein schönes Ding nicht wirklich zerstören können, können sie doch mit Hilfe ihrer außergewöhnlichen Lüsternheit die Schönheit vorübergehend beflecken. Hauptsächlich, ich muß es leider sagen, kommen diese Menschen durch den Journalismus zu Worte. Ich bedaure es, weil viel zugunsten des modernen Journalismus zu sagen ist. Er teilt uns die Meinungen der Ungebildeten mit und hält uns so auf dem laufenden über die Ignoranz der Gemeinschaft.