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denn er fühlte mit dem Instinkt eines Mannes, der mehrerlei Ausdrucksformen beherrschte, daß die höchste Kunst die Literatur ist, und das intimste und stärkste Ausdrucksmittel die Worte sind.

Ernst: Gut, du hast nun dargetan, daß dem Kritiker alle objektiven Formen zu Gebote stehn; jetzt möchte ich etwas über die Eigenschaften hören, die für den wahren Kritiker kennzeichnend sind.

Gilbert: Was würdest du als solche nennen?

Ernst: Nun, ich meine, ein Kritiker sollte vor allen Dingen gerecht sein.

Gilbert: Ach! nicht gerecht. Ein Kritiker kann nicht gerecht sein im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Nur über Dinge, die einen nicht interessieren, kann man eine wirklich unparteiische Meinung aussprechen, was ohne Zweifel der Grund ist, warum eine unparteiische Meinung immer ganz und gar wertlos ist. Wer beide Seiten einer Frage sieht, sieht überhaupt gar nichts. Kunst ist eine Sache der Empfindung, und in Kunstdingen ist der Gedanke unausbleiblich vom Gefühl gefärbt und ist so eher fließend als fest und kann, da er von feinen Stimmungen und seltenen Augenblicken abhängt, nicht in die Starrheit einer wissenschaftlichen Formel oder eines theologischen Dogmas gepreßt werden. An was die Kunst sich wendet, ist die Seele, und die Seele kann ebenso Gefangener des Geistes werden als des Körpers. Man sollte natürlich keine Vorurteile haben; aber wie ein großer Franzose vor hundert Jahren bemerkte, geschieht es einem in diesen Dingen, daß man die oder jene Vorliebe hat, und wenn man eine Vorliebe hat, hört man auf, gerecht zu sein. Nur ein Auktionator auf einer Kunstversteigerung kann in gleicher Weise und unparteiisch alle Richtungen in der Kunst bewundern.