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des Dialogs kann er das Objekt von jedem Standpunkt beleuchten und es uns von allen Seiten zeigen, wie uns der Bildhauer die Gegenstände zeigt, und er gewinnt durch diese Methode allen Reichtum und alle Wirklichkeit der Wirkung mit Hilfe der Seitenwege, die sich im Fortschreiten des Hauptgedankens auftun und den Gedanken in Wahrheit vollständiger ins Licht setzen, oder mit Hilfe glücklicher nachträglicher Einfälle, die das Hauptthema reicher zutage fördern und dabei etwas von dem köstlichen Reiz des Zufalls haben.

Ernst: Und vermittelst des Dialogs kann er auch einen nicht vorhandenen Gegner erfinden, und ihn, wenn er will, durch irgend eine absurd sophistische Beweisführung bekehren.

Gilbert: Ach! Es ist so leicht, andere zu bekehren. Es ist so schwer, sich selbst zu bekehren. Um zu dem zu gelangen, was man wirklich glaubt, muß man mit Zungen sprechen, die nicht die eigenen sind. Um die Wahrheit zu kennen, muß man tausenderlei Falsches ersinnen. Denn was ist Wahrheit? In der Religion ist sie lediglich die Meinung, die sich überlebt hat. In der Wissenschaft ist sie die letzte Entdeckung. In der Kunst ist sie unsre letzte Stimmung. Und so siehst du jetzt, Ernst, daß dem Kritiker ebenso viele objektive Ausdrucksformen zu Gebote stehen wie dem Künstler. Ruskin brachte seine Kritik in die Form dichterischer Prosa und ist in seinen Wandlungen und Widersprüchen unübertrefflich; und Browning brachte die seine in Blankverse, und Maler und Dichter mußten uns darin ihr Geheimnis ausliefern; Renan benutzt den Dialog und Pater die novellistische Form, und Rossetti übersetzte die Farbe Giorgiones und die Zeichnung Ingres’ und ebenso seine eigene Farbe und Zeichnung in die Musik des Sonetts;