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weiser als wir, und ihre Weisheit ist bitter. Sie erfüllt uns mit unmöglichem Verlangen, und schickt uns nach Zielen, deren Unerreichbarkeit uns bekannt ist. Eines aber, Ernst, kann sie für uns tun. Sie kann uns aus einem Milieu wegführen, dessen Schönheit uns vom Nebel der Vertraulichkeit getrübt ist, oder dessen niedrige Häßlichkeit und schmutzige Ansprüche die Vollendung unserer Entwickelung hemmen. Sie kann uns helfen, die Zeit zu verlassen, in der wir geboren sind, und zu andern Zeiten zu gehen und uns in ihrer Atmosphäre heimisch zu fühlen. Sie kann uns lehren, unserem Erleben zu entrinnen und das Erleben derer zu haben, die größer als wir sind. Der Schmerz Leopardis, der gegen das Leben aufschreit, wird unser Schmerz. Theokrit bläst auf seinem Rohr, und wir lachen aus dem Mund von Nymphe und Schafhirt. Im Wolfsfell Pierre Vidals fliehen wir vor den Hunden, und in der Rüstung Lancelots reiten wir aus dem Lustschloß der Königin. Wir haben das Geheimnis unserer Liebe Abälard ins Ohr geflüstert, und im beschmutzten Gewande Villons haben wir unsre Schande in Lieder verwandelt. Wir können die Dämmerung mit Shelleys Augen beschauen, und wenn wir mit Endymion wandern, verliebt sich der Mond in unsere Jugend. Unser ist die Qual des Atys, und unser die schwächliche Wut und die edeln Leiden des Dänenprinzen. Meinst du, es sei die Phantasie, die uns in stand setzt, diese zahllosen Leben zu leben? Ja, es ist die Phantasie, und die Phantasie ist das Ergebnis der Vererbung. Sie ist einfach konzentrierte Rassenerfahrung.

Ernst: Aber was spielt darin der kritische Geist für eine Rolle?

Gilbert: Die Kultur, die diese Überlieferung der Rasseerfahrungen