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Wir erkranken an den nämlichen Krankheiten wie die Dichter, und der Sänger leiht uns seinen Schmerz. Toter Mund hat seine Botschaft an uns, und Herzen, die zu Staub geworden sind, können ihre Freude mitteilen. Wir stürzen zu Fantina, ihre blutenden Lippen zu küssen, und wir folgen Manon Lescaut über die ganze Erde. Unser ist die Liebesraserei des Tyriers, und das Entsetzen des Orestes ist auch unser. Es gibt keine Leidenschaft, die wir nicht fühlen können, keinen Genuß, den wir nicht befriedigen können, und wir können die Zeit wählen, wo wir im Banne sind, und ebenso die Zeit unserer Freiheit. Leben! Leben! Gehen wir doch nicht zum Leben, um unsre Erfüllung oder unser Erlebnis zu finden. Das Leben ist ein Ding, das von Umständen umschnürt ist, dessen Erscheinungsformen auseinanderklaffen und dem der schöne, untrennbare Zusammenhang von Form und Geist fehlt, der das einzige ist, was ein künstlerisches und kritisches Gemüt befriedigen kann. Das Leben verlangt zu viel für seine Waren, und wir erkaufen das geringste seiner Geheimnisse zu einem Preis, der grauenhaft und unsäglich ist.

Ernst: Müssen wir uns denn also um alles an die Kunst wenden?

Gilbert: Um alles. Weil die Kunst uns nicht weh tut. Die Tränen, die wir über ein Schauspiel vergießen, sind typisch für die erlesenen, zwecklosen Empfindungen, die zu erwecken das Amt der Kunst ist. Wir weinen, aber wir sind nicht verwundet. Wir haben Schmerz, aber unser Schmerz ist nicht bitter. Im tatsächlichen Menschenleben ist das Leiden, wie Spinoza einmal sagt, ein Weg zu einer Vollkommenheit niedrigeren Grades. Aber das Leiden, mit dem die Kunst uns erfüllt, reinigt uns und weiht uns zugleich, wenn ich noch einmal den großen