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noch den Reiz höchster Kunst verstehen, haben wohl manchmal gesagt, der Kritiker liebe am meisten über solche Bilder zu schreiben, die zur anekdotischen Malerei gehören und Szenen aus der Literatur oder Geschichte darstellen. Aber dem ist nicht so. In Wahrheit sind Bilder dieser Art viel zu verständlich. Im ganzen gehören sie in dieselbe Reihe wie Illustrationen und sind, selbst wenn man sie von diesem Standpunkt betrachtet, verfehlt, da sie die Phantasie nicht anregen, sondern ihr bestimmte Schranken setzen. Denn das Gebiet des Malers ist, ich wies schon vorhin darauf hin, ein ganz anderes als das des Dichters. Dem Dichter gehört das Leben in seiner vollen und unbedingten Ganzheit, nicht nur die Schönheit, die man mit den Augen sieht, auch die, die man mit Ohren hört; nicht nur die Augenblicksgrazie der Form oder die vorübergehende Freude der Farbe, sondern der ganze Bezirk des Gefühls, der vollständige Umkreis des Denkens. Der Maler ist so sehr beschränkt, daß er uns das Geheimnis der Seele nur durch die Maske des Körpers hindurch zeigen kann; nur durch konventionelle Bilderzeichen kann er Ideen übermitteln; nur durch entsprechende Erscheinungen der Körperwelt kann er Psychologie treiben. Und wie ungenügend tut er es dann, wenn er etwa von uns verlangt, den zerrissenen Turban des Mohren für den edlen Zorn des Othello zu nehmen, oder einen kindischen alten Mann im Sturm für den wilden Wahnsinn des Lear. Aber es scheint, diese Art Maler läßt sich nicht aufhalten. Die meisten unserer älteren Maler bringen ihr elendes und vergeudetes Leben damit zu, unbefugt auf dem Gebiet der Dichter zu jagen, ihre Motive durch plumpe Behandlung zu verderben und sich vergebens abzumühen, durch