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Thieren auf einem sehr freundlichen, ja fast gleichen Fuß gelebt. haben. Der Mensch hat aber, was dem Thiere – wie die Naturforscher behaupten – gänzlich fehlt – Verstand, und schwingt sich dadurch auf die höchste Stufe der geschaffenen Welt.

Der Mensch hat Verstand, und es ist das ein Satz, mit dem wir alle, wenn wir nicht tiefer darauf eingehen, vollkommen einverstanden sein werden, und doch ist er im Ganzen viel zu allgemein gehalten. Der Mensch hat nämlich im Allgemeinen eigentlich keinen Verstand, denn er verbittert sich sein kurzes Leben von dem Augenblick an, wo er selbständig handeln lernt, fast durchgängig mit höchst unnöthigen Sorgen, kleinlichen Rücksichten, großartigen Spekulationen, lächerlichem Ehrgeiz und vollkommen nutzlosen Phantasieen, und ist dann

– wie ein Thier auf dürrer Heide,
von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt,
und rings umher liegt schöne grüne Weide.

In speciellen Fällen hat er aber trotzdem wirklich Verstand, und gibt dies auch auf die unzweideutigste Weise zu erkennen. Er versteht nämlich – die erste und unentbehrlichste Bedingung zur Civilisation – sich Bedürfnisse zu erschaffen, nur um diese später befriedigen zu können – ein Sinn, der dem Thier vollkommen abgeht. Der Mensch bekümmert sich außerdem stets um Dinge, die ihn eigentlich gar nichts angehn, und hat dabei tausend angebliche Mittel, sein Leben zu verlängern, wie ebensoviele, um es einzeln oder in Masse zu vernichten.

Dann hat der Mensch Religion – ein Wort mit einem sehr unbestimmten Begriff, das sich jeder Stamm nach seinen speciellen Bedürfnissen und Eigenthümlichkeiten regulirt. – Er hat ferner Gesetze, die von der Art sind, daß sich bei uns z. B. ganze Species des allgemeinen genus volle Lebensalter hindurch nur damit beschäftigen, herauszubekommen, was sie bedeuten und wie sie angewendet werden müssen. – Er hat staatliche Einrichtungen mit denen die eine Hälfte der Bevölkerung stets vollkommen einverstanden ist, während die andere das Gegentheil verlangt und für nothwendig hält. – Er hat Schulen, in welchen den jungen Menschen das gelehrt wird, was sie im Leben nicht brauchen, weil sie das andere schon im Leben selber lernen. – Schließlich baut er noch Mühlen, Kirchen, Institute, Monumente, Irrenhäuser, Gefängnisse und unbequeme Wohnungen, entdeckt täglich neue Mittel und Wege, sich die Naturkräfte

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Gerstäcker: Zur Naturgeschichte des Menschen. In: Hausblätter, 1860, 1. Band. Adolph Krabbe, Stuttgart 1860, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zur_Naturgeschichte_des_Menschen-Gerstaecker-1860.djvu/4&oldid=- (Version vom 1.8.2018)