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Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.

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Die Burgfrau hält zitternd den Becher voll Wein,

und stiert mit erschrocknen Blicken hinein.

„Ha, seht doch! der Wein, wie wird er so roth! –
Barmherziger Gott! mein Kind ist todt!“

Ihr zwängte die Stimme der gräßliche Schreck,

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sie schleuderte schaudernd den Becher hinweg.


Sie schlug sich die Hand vor die Stirne mit Macht,
sie hatt’ auf die Fragen der Gäste nicht Acht.

Sie stürzt aus dem Saal mit verzweifelndem Sinn,
und rannte in’s Kindbettkämmerlein hin.

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Sie riß von der Wiege die Decke geschwind,

und fand nicht darinnen ihr liebes Kind.

Die sorglose Amme, berauscht von Wein,
war im Sessel am Fenster geschlafen ein.

Die faßt sie am Arme: „Sag’, Amme, geschwind,

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sag’, Amme, wo hast du mein liebes Kind?“


Die Amme zeigt trunken auf’s Fenster hin:
„„Hier liegt’s in der Wiege; süß schläft es darin!““

„O Jesu, du stürztest mein Kind in’s Grab!
So will ich dich schleudern auch wieder hinab!“

Empfohlene Zitierweise:
Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.. Rudolph & Dieterici, Annaberg 1838, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ziehnert_Sachsens_Volkssagen_II_176.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)