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Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.

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Seine Stimme klang so milde,

     und ich faßte mir Vertraun,
ließ im ungeschminkten Bilde
     meine Schuld ihn offen schaun.
Und er sprach: „Für deine Sünden

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     trägst du die gerechte Pein;

doch du wirst Vergebung finden,
     und dein Gott wird dir verzeihn!

Folge mir, du Ungetreue,
     will dich führen einen Pfad,

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dorten bete, dort bereue

     rastlos deine Missethat!
Und er nimmt mich bei den Händen,
     führt mich einen langen Steg
zwischen grausen Felsenwänden

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     über kahle Wacken weg.


Zitternd folg’ ich. Wir erreichen
     endlich einen freien Raum,
dort mit weitgespreitzten Zweigen
     stand ein alter Tannenbaum.

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Dran, am Halse mein Geschmeide,

     mit verzerrtem Angesicht,
hing, dem Rabenschwarm zur Beute,
     der verruchte Bösewicht.

Und der Engel sprach: So richtet

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     Gott den Frevler. Schaue hin!

Ha, da stand ich wie vernichtet,
     wie zermalmt an jedem Sinn.
Zittre nicht! Dein harrt die Gnade!
     fuhr der Engel sanfter fort.

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Siehst du abendwärts vom Pfade

     jenen Felsenkegel dort? –

Empfohlene Zitierweise:
Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.. Rudolph & Dieterici, Annaberg 1838, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ziehnert_Sachsens_Volkssagen_II_107.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)