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Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.

Und als der Abend niedersank,
     auf Berg und Thal und Wiese,
da stahl sie aus des Schergen Schrank

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     die Schlüssel zum Verließe,

und schlich sich, damit es ja Niemand gewahrt,
gar still in den Kerker zu Irmengard,

Und stärket sie mit Brot und Wein,
     und löset ihre Ketten;

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„Folg mir! Schon bricht die Nacht herein!

     Ich komme, dich zu retten!“
Drauf führt sie an’s Burgthor sie leise hinan,
da sprengte der Junker den Berg heran.

Wie der die Fliehende gewahrt,

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     gibt er dem Gaul die Sporen;

zurück wohl flüchtet Irmengard,
     doch ach, sie ist verloren.
Kein and’res Thor führte hinunter vom Schloß,
durch das Eine einsprengte der tobende Troß.

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Da schwankt sie auf dem Felsensteig

     bis hin zur äußern Mauer,
erklimmt sie glücklich, doch zugleich
     erfaßt sie Todesschauer;
denn vorwärts gähnt sie der Abgrund an,

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und hinter ihr stürmet der Junker heran.


Empfohlene Zitierweise:
Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.. Rudolph & Dieterici, Annaberg 1838, Seite 054. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ziehnert_Sachsens_Volkssagen_II_054.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)