Wenn wir die Bedeutung unseres Gesetzes erkennen wollen,
so gilt es zuerst die Absicht des Gesetzgebers festzustellen, die
Beweggründe, die ihn zu der Gesetzgebung veranlaßten, die
Ziele, die er mit ihr verfolgte. Doch ist zunächst noch eine
Vorfrage zu beantworten, die nämlich, ob denn in der Goldenen
Bulle überhaupt der einheitliche Wille eines Gesetzgebers zum
Ausdruck kommt, oder ob sie nicht, wie man wohl gemeint hat,
das Produkt eines Kompromisses zwischen entgegengesetzten oder
doch stark divergierenden Tendenzen des Kaisers und der Kurfürsten
ist.
Die Kritik, welche von dieser letzteren Anschauung aus an einzelnen Bestimmungen des Gesetzes geübt worden ist, haben wir oben bei der Besprechung der cc. V und XII sowie bei der Erörterung des Zustandekommens der Gesetze zurückgewiesen und können uns hier darauf beschränken, nochmals hervorzuheben, wie sehr der Gedanke eines Kompromisses als der Grundlage des Gesetzes dessen ganzer Tendenz und den Umständen, unter denen es entstand, widerspricht. Während der ganzen Zeit, in der die Goldene Bulle entstand, finden wir den Kaiser in vollster Eintracht mit den Kurfürsten, die ihm meist zu Dank verpflichtet waren. Mehrfach spricht der Kaiser in dem Gesetze aus, daß er die Stellung der Kurfürsten, in denen er die Säulen des Reiches erblickt, stärken und erhöhen wolle, und der Inhalt bestätigt durchaus die Aufrichtigkeit dieser Gesinnung. Überall finden wir Bestimmungen zu ihren Gunsten, dagegen keine einzige, in welcher ein unbefangener Beurteiler den Versuch erblicken könnte, die Stellung der Kurfürsten herabzudrücken, die des
Karl Zeumer: Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. (Teil 1). Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1908, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeumer_Die_Goldene_Bulle.pdf/202&oldid=- (Version vom 1.8.2018)