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Das arme Wort! Was kann in diesem Augenblick die todte Zunge, die lechzende Sprache sagen, wo selbst der seelenvolle feurige Blick seine Flügel niederschlägt und seinen Glanz verhüllet. Wenn es einen Augenblick himmlischer Wollust und reiner Vereinigung verkörperter Wesen hier auf Erden giebt, so ists dieser; alles ganz andrer Art, als was uns nachher der darbende Genuß erlaubet. Ich weiß nicht, welche Mythologie irgend eines Asiatischen Volks ihre Zeiträume des höchsten Alterthums so eintheilt, daß die Menschen (damals noch paradiesische Geister) sich Jahrtausende zuerst durch Blicke, nachher durch einen Kuß, durch eine bloße Berührung geliebt hätten, bis sie in langen Zeiträumen endlich zu den niedrigern Arten des Genusses allmählich hinabgesunken wären. Der Augenblick jenes geistigen Erkennens, jenes Verraths der Seele durch einen Blick setzt uns gleichsam in diese Zeit zurück, und mit ihr in die Freuden des Paradieses. In ihm genießen wir zurückempfindend, was wir so lange suchten, und uns selbst nicht zu sagen wagten:

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_350.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)