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die ausgerißne Pflanze so lange im Reich der Vorrathskammer ungebohrner Seelen welken und warten lassen, bis er wieder ein Stellchen erjage? Wie viele Menschen sind in jener Welt gewiß dadurch glücklich, daß sie hier unglücklich waren. Kennen Sie, mein Freund, die Kleistische Fabel vom gelähmten Kranich?

     Ch. Ich kenne sie nicht.

     Th. Sie ist eine der schönsten, die je gemacht ward. Wollen Sie sie lesen?

     Theages gab ihm das Buch, und Charikles las:


     Der Herbst entlaubte schon den bunten Hain,
Und streut aus kalter Luft Reif auf die Flur:
Als am Gestad’ ein Heer von Kranichen
Zusammen kam, um in ein wirthbar Land
Jenseit des Meers zu ziehn. Ein Kranich, den
Des Jägers Pfeil am Fuß getroffen, saß
Allein, betrübt und stumm, und mehrte nicht
Das wilde Lustgeschrey der Schwärmenden,
Und war der laute Spott der frohen Schaar.

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_318.jpg&oldid=- (Version vom 11.11.2018)