Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung | |
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liebsten Bildern schuf, nun unerwartet und plötzlich, wenn auch nur Stückweise, realisirt sieht? Muß sie einem solchen Traum nicht zujauchzen und ihn umarmen, wie Adam die Eva umarmte: da sie in ihm das Gebilde ihrer selbst, das Geschöpf ihrer süssesten Augenblicke, die Frucht ihrer geheimen Liebe gewahr wird? Sehen Sie, m. Fr., daher kommen die Anstaunungen, die plötzlichen und oft so angenehmen, so tiefahndenden, so gewaltigen Sympathien, daher kommt das weissagende Göttliche des ersten Eindrucks. Kein zweyter Eindruck kann es uns geben: er schwächt nur die Wollust des Ersten und decomponirt das Gemälde. So lange die Seele sich den ersten Traum wahrmacht, schwebt sie gleichsam im Elysium der Kindheit; ist der Traum aufgelöst, so sind leider! die Götter – Menschen worden, sie baut den Acker und nährt sich mit Kummer und Schweiß des Angesichts. Merken sie insonderheit, daß bey wohlorganisirten Menschen dergleichen Erinnerungen meistens schön, aber wild, romantisch, oft überspannt sind – gerade wie
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_258.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)