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beym Ueberdenken völlig vergewissern können) – woher sind also diese Erinnerungen? Woher können sie seyn, als aus einem vorigen Zustande? Daher sind sie auch so süß, so erhebend! Die seligsten Augenblicke, die größesten Gedanken eines Menschen, rühren daher; in gemeinern Stunden staunen wir uns selbst an, und begreifen uns nicht. Und das sind wir! wir, die aus hundert Ursachen so tief hinabgesunken, und in die Materie verkleibt sind, daß uns wenige Erinnerungen so reiner Art übrig bleiben. Die höhere Menschen, die, von Wein und Blut gesondert, ganz in Einfalt, in Mäßigkeit, in der Ordnung der Natur lebten, brachtens ohne Zweifel höher: wie das Beyspiel Pythagoras, Jarchas[1], Apollonius, und anderer lehrt, die sich deutlich erinnerten, was und wie vielmal sie in der Welt gewesen waren. Wenn Wir blind sind, oder kaum zwey Schritte vor uns sehen, dürfen wir deshalb läugnen, daß Andre hundert und tausend weiter, ja bis auf den Boden der Zeit hinab, in den tiefen, dunkeln Brunnen der Vorwelt sehen können,



  1. indischer Brahmane


Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_254.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)