Seite:Zerstreute Blaetter Band I 165.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

und verworren, dazu immer unvollendet, vorübergehend und kurz seyn; antworte darüber.

     Mich dünkt, sprach sie, darauf ist leicht geantwortet: wer weis dieß besser, als du, der Vater der ewigen Tonkunst. Meine Schwester will, daß meine Töne Gestalten und Farben seyn sollen, und das ist nicht möglich. Sie will, daß ich sie an die Wand hefte, damit sie, wie Memnons Statue, wenn die Sonne auf sie scheint, tönen, und wie ein Glockenspiel ewig tönen sollen; auch das ist unmöglich, und wäre in kurzer Zeit sehr widrig. Meine Wirkung ist also kurz und vorübergehend; aber wem ist sies also? den armen, unter jeder Empfindung so bald erliegenden Menschen. Und ihnen mußte sie dieß seyn, eben weil sie so stark, so mächtig fortreißend und überschwemmend für sie wäre, hätte sie nur etwas längere Dauer für sie erhalten. Nein! sie sind noch nicht zur ewigen Harmonie der Götter gebildet; sie versinken, sie gehn im Ocean meiner Kunst unter; darum wurden ihnen nur wenige Töne eines unendlichen Saitenspiels, in wenigen

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_165.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)