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läugnet dir, daß Linie, Linie, und Farbe, Farbe sey, daß man sie mit Augen sehen und wenn man Zeit hat, sie so lang sehen könne, als man will; aber sehen ist keine Rührung, das klärste und daurendste Erkennen ist noch keine Empfindung: vielmehr ist bekannt, daß jenes diese immer in einem gewissen Grad hindre: denn eben die Kälte, mit der man betrachtet, macht klaren Begriff. Du schreibst mit dem Sonnenstrahl, aber auch nur ins kalte Gedächtniß. Selbst die Begeisterung, mit der du, glänzende Schwester, von Göttern und Göttinnen, von Duft und Ambrosia sprachst, ist nur Feuer der Phantasie, nicht des Herzens und der Empfindung. Keiner deiner Lieblinge ist bey uns im Himmel gewesen; er mahlte immer nur Menschen, und es ist gar nicht denkbar, daß nicht immer noch tausend schönere Menschen auf Erden gelebt haben und leben werden, als einer deiner Mahler sie mahlte. Diese kopirten sich unaufhörlich, setzten oft, wo sie am meisten ideal seyn wollten, Ungeheuer auf einander und wurden bey allen sogenannten Götter-

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_163.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)