Seite:Zerstreute Blaetter 6.pdf/290

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

über Sinne und Neigungen verwerflich? Waren rohe sinnliche Naturen anders zu besänftigen, zu fesseln, zu zähmen, als durch ein gegenseitiges Extrem, durch eine andre, geistige Welt noch stärkerer Leidenschaften und Begierden? Woher kommts, daß in unserm Zeitalter wir so wenig können, so wenig ernstlich wollen und vermögen, als weil wir von Jugend auf zerstreut und verzärtelt leben, indem uns zu anhaltenden schweren Uebungen Anlaß, Regel, Ordnung, Sitte, tägliche Gewohnheit und strenges Gebot fehlen. Gewiß vermögen wir nicht, was die Männer der Legende vermochten, sonst brächten wir Wirkungen hervor, wie jene, aus deren Pflanzungen wir, über sie spottend, von ihren Früchten zehren.


Und dann! gäbe es in diesen Zeitalter durchaus keine Muster einer Tugend, die wirklich diesen Namen verdienet? Keine Seelengröße, die, über sich selbst gebietend, Gefahren nicht suchte,

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter (Sechste Sammlung). Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1797, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_6.pdf/290&oldid=- (Version vom 1.8.2018)