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wem bringen sie Speise? Einem Einsiedler. Ihm entspringt die Quelle, ihm trägt der entblätterte Baum Früchte. – Was thut er in seiner Einsamkeit? Psalmen singen, schweigen, seine Seele zur höchsten Unthätigkeit gewöhnen, sich unnütz peinigen und foltern. Erwecken sie nicht Mitleiden und innern Abscheu, jene Büßungen, mit denen betrogene Unglückliche sich selbst martern? jene unnatürlichen Kämpfe, die ihre Seele verwirren, ihre edelsten Kräfte lähmen, und mit denen sie sich mehr als Ein Fegfeuer, mehr als eine Hölle selbst schaffen und geben! Hat sich nicht oft euer Busen verengt und euer Haar emporgesträubet, wenn ihr diese unsinnigen Büßungen, diese sinnlosen Entäußerungen der Gedanken, Sinne und Triebe im Leben eines Menschen Jahrehin verfolgtet? Und wenn ihr die mütterlich-rufende, warnende, wiederkehrende Natur hart und schnöde zurückgewiesen saht, flossen euch nicht Thränen? – Vor Göttern und Menschen giebt es keinen Thränen-wertheren

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter (Sechste Sammlung). Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1797, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_6.pdf/286&oldid=- (Version vom 1.8.2018)