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einem jungen Amerikaner, der, über den Tod seiner einzigen geliebten Schwester untröstlich, den Entschluß faßte, sie im Lande der Geister selbst aufzusuchen. Ein Zauberer wies ihm den Weg dahin, und gab ihm ein Behältniß, worin er die Seele der Verstorbenen einschließen könnte. Nach unsäglicher Gefahr und Mühe langte er an. Der König der Seelen nahm ihn in Schutz gegen die Proserpina dieses Reichs, der die weibliche Seele eigentlich zugehörte. Er bekam sie im Tanz zu sehen, wollte sie umarmen, und sie verschwand vor ihm, wie dem Aeneas seine Kreusa; noch weniger wollte sie zurück ins Land der Lebendigen. Endlich gewann er Mittel, sie in sein Behältniß einzuschließen. Freudig wanderte er zurück. Die angenehme Stunde kam, da er durch Hülfe des Zauberers die erbeutete Seele mit ihrem Körper vereinigen wollte: vor Ungeduld der Liebe öffnete er seinen Schatz zu früh, und die wieder befreyete Seele entfloh auf ewig. Sei dies Mährchen

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter (Sechste Sammlung). Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1797, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_6.pdf/152&oldid=- (Version vom 1.8.2018)