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Dich überwältigend erbitterte,

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Daß deine schönsten Früchte du mit Gift

Anhauchtest statt des süßen Wohlgeruchs;
Entzweiete dich mit dir selbst und schuf
Zur Truggestalt dich dir, die außenher
Du suchetest und liebtest, und nur sie

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Bergehrend, Dich, Dich in dir selbst verlohrst.


     Betrogener Narcissus, bist denn Du,
Was du im Quell’ anlächelst? Sehnsuchtvoll
In allen Spiegeln suchst? dem Echo selbst
Abzwingest? Ist dein Schatte mehr als du?

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     Und wunderst du dich, der vom ärgsten Gift,

Dem eignen ausgehauchten Athem lebt,
Wenn er von andrer Munde wiederkehrt, –
Du wunderst dich, daß du zum Schatten wirst,
Zum trocknen Quell, zum Grabe deiner selbst,

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Zur Puppe; spieltest du mit dir nicht stets?


Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter (Sechste Sammlung). Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1797, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_6.pdf/104&oldid=- (Version vom 1.8.2018)