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die für sie beschämende Thatsache hätten totschweigen wollen, dass sie, die einst Herren von Japan gewesen, jetzt so zurückgekommen seien. Allein wo bleibt für eine solche Annahme irgend eine Analogie? Und spricht nicht schon der Inhalt und der elegische Ton der vorerwähnten Ainosagen gegen Chamberlains Auslegung auf das entschiedenste?

Aus verschiedenen Sagen hat man folgern wollen, dass die Aino in ihrem jetzigen Wohnsitze eine ältere Bevölkerung angetroffen und ausgerottet hätten; es möchte jedoch keiner Frage unterworfen sein, dass jene Sagen — von einem zwerghaften, unter der Erde wohnenden Geschlechte, den Koropokkuru, welches darüber klagt, dass die Gottheit es so klein geschaffen, und von einem Riesenvolke, den Kimui-aino oder Leuten vom Berge, das man sich ogerartig dachte — nur richtige Analoga des fast überall vorkommenden Glaubens an Kobolde oder Zwerge und an Riesen sein können, eine Ansicht, welche durch das sehr neue Datum, bis zu welchem die Aino beide, namentlich die letzteren, noch gesehen haben wollen, in hohem Grade bestärkt wird. Auch Drachen oder grosse Schlangen bilden eine ganz folgerichtige Zugabe zu diesen Sagen, insbesondere eine ungeheure Schlange, welche von den Göttern lange vergebens bekriegt ward, da ihre Stücke immer wieder rasch zusammenwuchsen. Als man sie zuletzt doch erlegte, kamen aus ihren Wunden Wespen und allerlei andere stechende Insekten hervor.

Von dem Jenseits erzählen verschiedene interessante Geschichten, welche zugleich die Angabe Batchelors widerlegen, der zufolge die Aino die Vulkane mit der „Hölle“ oder besser Unterwelt, Pokna Muschir, in Verbindung bringen sollen. Die beiden von Chamberlain ausführlich mitgeteilten Sagen von dem Besuche eines Aino in der Unterwelt mögen in möglichst genauer Wiedergabe folgen.

Erste Unterweltsage. Ein braver junger Aino von gutem Aussehen verfolgte eines Tages auf der Jagd, der er eifrig und mit Geschick oblag, einen Bären in das wildeste Gebirge, weit, weit hin. Er vermochte indessen dem Tiere nie so nahe zu kommen, dass er einen Pfeil auf dasselbe hätte entsenden können, und auf einem Berggipfel verlor er es ganz aus dem Gesichte. Es war, wie er bald ermittelte, in eine weite Höhle gelaufen, in welche der Aino ebenfalls hinein ging. Anfangs von Dunkelheit ganz umfangen, bemerkte er doch nach einiger Zeit in der Ferne einen blassen Lichtschimmer und tastete seinen Weg dorthin; er kam endlich in bewohnte Gegenden und sah Bäume, Häuser, Dörfer, Menschen, alles wie in seiner Heimat, nur weit schöner. Mit den Menschen aber befasste sich der junge Jäger nicht, er forschte nur nach dem Bären, und da er ihn nicht sah, beschloss er, in der neuen Welt, welche sich ihm aufgethan, anderes Wild zu suchen. So schritt er thalaufwärts, weiter und weiter, bis er müde ward und sich an einigen Maulbeeren erfrischte, die an den Bäumen neben dem Wege hingen. Aber wie gross war sein Schreck, als er, zufällig auf sich selber blickend, gewahr wurde, dass er einen Schlangenleib bekommen hatte; sein Wehklagen darüber war auch nur das Zischen einer Schlange. Was sollte er thun? Die Rückkehr in die Welt da draussen vor der Höhle hätte ihm schleunigen Tod gebracht, da die Menschen die Schlangen hassen und verfolgen. Ohne es zu wissen, war er aber

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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_252.png&oldid=- (Version vom 20.11.2023)