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mehr, Kullervos tragisches Zusammentreffen mit der Schwester – schliesslich das Entstehen der Kantele aus einem Hechte, und mehrere andere Züge. Meistens scheint die Entleihung in Ingermanland vor sich gegangen zu sein.

Viel weiter zurück in der Zeit fuhren uns die vielen skandinavischen Stoffe, welche in der Kalevala vorkommen.

Sollte sich Professor Bugges Theorie von der Entstehung der Edda bewahrheiten, welche, ich muss es gestehen, für einen, der mit der Entwickelungsweise der finnischen und russischen epischen Gesänge vertraut ist, in der Hauptsache grosse Wahrscheinlichkeit enthält, so müsste die Grenze für die früheste Beeinflussung von dieser Seite her in den Zeitraum zwischen 900–1000 verlegt werden.

In diesem Falle würde die Aufnahme der skandinavischen Stoffe möglicherweise erst geschehen sein, nachdem das westliche Finnland unter schwedische und das nördliche Esthland unter dänische Oberhoheit gekommen war. Wir könnnen auch mit einiger Sicherheit annehmen, dass der Grundstoff zum Gesange vom Wettfreien Wäinämöinens und Ilmarinens (Velintsage) durch die Dänen nach Esthland gekommen ist; ganz sicher gilt dieses von der abenteuerlichen Fahrt des esthnischen Kalevipoeg nach dem äussersten Norden (Gormos Reise bei Saxo Grammaticus). Aber gegen die Annahme einer allgemeinen Aufnahme von Mythen und Sagen erst an einem so späten Zeitpunkte spricht unter anderem das historische Faktum, dass das Schloss von Reval 1223 von den Russen den Namen Kolyivan erhält. Hierdurch ist bewiesen, dass die besagte Stelle schon damals von den Esthen für einen heiligen Platz angesehen wurde, wo der Vater ihres gefeierten mythischen Helden seinen Grabhügel hatte. Aber um auf diese Weise lokalisiert zu werden, musste die Sage schon sehr lange bekannt gewesen sein. Und der Grundstoff zu einem grossen Teile der Thaten des Kalevalasohnes ist unzweifelhaft skandinavischen Mythen entnommen (Odins und Thors Abenteuer), ebenso scheint auch der Name von einem der Beinamen Odins hergeleitet zu sein.

Eine weitere Möglichkeit wäre, dass die Wäringer, nachdem das russische Reich unter den Slaven und Finnen gestiftet worden war, ihre Traditionen nach den neuen Ländern mitgeführt haben, welche sie in so grosser Menge besuchten. Dann würde die Verbreitung der Gesangsstoffe unter den Finnen zu gleicher Zeit vor sich gegangen sein, als die neuen Mythen sich unter den Skandinaviern entwickelten.

Die Sache ist an und für sich keineswegs unmöglich, denn man kann annehmen, dass das Neue auch für die Wikinger ein so hohes Interesse hatte, dass sie es gern anderen mitteilten. Aber auch hier begegnen uns sehr schwer wiegende Einwände. Nowgorod würde ohne Zweifel einer der mächtigsten Mittelpunkte für diese Beeinflussung der Finnen gewesen sein; wie soll man da erklären, dass der dieser Stadt zunächst wohnende finnische Stamm, die Wepser, gar keinen Anteil erhalten haben? In Ingermanland, durch welches die Heerstrasse der Wäringer nach Nowgorod gegangen ist, gibt es eine ganze Menge Gesänge mit aus Skandinavien geliehenen Stoffen; aber manche von ihnen enthalten sprachliche oder andere Kennzeichen, welche auf ihren Ursprung aus Westfinnland hinweisen, und ausserdem sind die in ihnen enthaltenen skandinavischen Stoffe, mit nur einer einzigen Ausnahme,

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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_212.png&oldid=- (Version vom 9.4.2024)