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Überall sehen wir somit die Erschaffung mit Hilfe eines Seevogels vor sich gehen. In den finnischen Gesängen scheint wohl die Auffassung in einem wesentlichen Umstande verändert zu sein: hier fällt das Tauchen nach dem Schlamme weg und anstatt dessen findet sich die Entstehung der Welt aus dem Ei. Aber der erste Umstand ist dennoch auch nicht unbekannt für den finnischen Gesang, obwohl er in einer etwas veränderten Gestalt einer andern Stelle angepasst ist. Am Schlusse des Gesanges von der Entstehung der Kantele (Harfe) taucht nämlich, nach einem Teile der Varianten, ein Vogel hinab in die Tiefe des Meeres, um auf den Befehl Wäinämöinens die Thränen heraufzuholen, welche das Entzücken über die lieblichen Töne des Saitenspieles den eigenen Augen des greisen Sängers entlockt hatte. Die Übertragung dieses Zuges war eine natürliche Folge davon, dass derselbe in der Schöpfungssage der Ostseefinnen durch einen neuen, für sie ursprünglich fremden Zug ersetzt worden.

Die Vorstellung vom Entstehen des Himmels und der Erde aus den beiden Hälften eines Eies war unter den Völkern der Vorzeit allgemein ziemlich verbreitet. Zuerst mag sie wohl bei den Ägyptern aufgekommen sein, dann finden wir sie auch bei den Babyloniern und Assyriern, bei den Phöniziern, Griechen und Indern. Alle diese Völker sind vom finnischen so weit in Raum und Zeit geschieden, dass eine direkte Entlehnung gewiss eine Unmöglichkeit zu sein scheint. Aber von Griechenland aus mag doch allmählich diese Mythe zu den im Norden wohnenden barbarischen Völkern gedrungen sein, denn wir finden sie heutzutage noch bei den Litauern,[1] den nächsten Nachbarn der Finnen im Süden. Bei ihnen tritt sie noch in der uralten südländischen Form auf, ohne Verbindung mit einem bei der Erschaffung der Welt mitwirkenden Vogel, was zugleich ein Beweis dafür ist, dass die Finnen diese Mythe von den Litauern erhalten haben und nicht umgekehrt.

Die bei den Finnen und ihren Stammesverwandten so weit verbreitete Schöpfungssage wird auch ziemlich oft bei den Russen angetroffen, ja sogar nach Westen und Süden zu bei anderen slavischen Völkern, sowie den Russinen in den Karpathen, selbst bei den Serben sind noch Varianten aufgezeichnet worden. Aber hier stammt offenbar die Mythe von den Finnen her. Die Sage zeigt sich am allerreinsten und deutlichsten in den russischen Gegenden, welche am nächsten an die finnischen Stämme grenzen, sie wird immer undeutlicher, je weiter sie sich entfernt, bis endlich bei den Serben die Ähnlichkeit nur unbedeutend ist.

Wir können uns jetzt zu dem im Schlussteile des archangelschen Sampocyklus vorkommenden Gesange vom Raube des Sampo wenden. Über den Sampo, den wunderbaren, Glück bringenden Talisman, den Zankapfel zwischen Pohjola und Kalevala, haben die Forscher die verschiedensten Meinungen ausgesprochen. Der eine hat darin einen Tempel sehen wollen, der andere eine Zaubertrommel, der dritte die Sonne u. s. w. Alle diese Erklärungen sind gleichwohl auf Schwierigkeiten gestossen, weil die Beschreibung des Sampo im Gesange so sonderbar und voller Widersprüche ist. Einmal wird er dargestellt als ein Ding, welches Mehl, Salz

  1. Veckenstedt, die Mythen, Sagen und Legenden der Zamaiten (Litauer). 1. Bd. S. 216.
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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_133.png&oldid=- (Version vom 21.11.2023)