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geschossen, sowie Lemminkäinen. In einigen lässt die Herrin von Pohjola einen Rechen verfertigen, mit dem sie, ebenso wie die Mutter Lemminkäinens, den Ertrunkenen auffischt.

Unterschiede sind freilich zwischen beiden Gesängen vorhanden, und zwar einige recht wesentliche, doch einzelne verschwinden bei einem Vergleiche der russisch-karelischen Varianten mit den finnländischen: Lemminkäinen selbst wird erschossen, dagegen in der allgemein bekannten, der gedruckten Kalevala verwandten archangelschen Variante nur das Pferd Wäinämöinens. Aber auf finnischer Seite trifft der Schuss immer den greisen Sänger selbst, und es wird mit keinem Worte das Pferd oder überhaupt das Reiten erwähnt. Wie diese Veränderung vor sich gegangen ist und woher diese Zuthaten ihren Ursprung herleiten, ist nicht unmöglich nachzuweisen, doch würde es mehr Raum erfordern, als hier statthaft ist. Die Hauptsache ist wohl die, dass der fragliche Gesang offenbar eine Umformung des Gesanges vom Tode Lemminkäinens ist.

Wäinämöinen war der hervorragendste Held des finnischen Gesanges geworden; kein Wunder daher, wenn viele Thaten und Ereignisse, welche eigentlich anderen Personen zugehört haben, in einigen Fällen auf ihn übertragen worden sind. In dem Liede vom Entstehen des Eisens nimmt er in einem Teile der Varianten Ilmarinens Stelle als der erste Schmied ein. Auch andere Abenteuer Lemminkäinens werden manchmal auf ihn übertragen. In einer Variante von den grossen Hiebwunden und dem schrecklichen Blutergusse Wäinämöinens wird er von der Pohjolaherrin geheilt, welche gleichwohl erst vorgiebt, die Beschwörung des Wasserschösslings nicht zu kennen, dieselbe, welche auch Lemminkäinen fehlte. Die Mehrzahl solcher Ansätze zu Neubildungen sind natürlich auf eine einzelne Variante beschränkt, aber ein Teil hat sich, wie wir gesehen haben, eingebürgert und verbreitet und auf diese Weise dem epischen Gesange neue, vorher unbekannte Richtungen gegeben.

Wenn somit der erste Teil des Gesanges sich als ziemlich modern erwiesen hat, so gehört dagegen die spätere Hälfte zu den allerältesten Bestandteilen der Kalevala. Überall, wo der finnische Volksstamm noch irgend eine uralte Tradition beibehalten hat, sowohl bei den Tscheremissen wie bei den Mordwinen an der Wolga, bei den Wotjacken, den einzigen Heiden in dem permischen Volkszweige, bei den Wogulen in dem ugrischen, ja sogar ausserhalb des finnischen Stammes, bei den in entfernterem Grade verwandten heidnischen Tataren am Fusse des Altaigebirges und den Mongolen hinter dem Baikalsee, finden wir mit unbedeutenden Variationen eine und dieselbe uralte Schöpfungssage. Im Anfange gab es nichts als ein Urmeer, auf welchem der Obergott herumgetrieben wurde. Dieser begann Langeweile zu empfinden und schuf sich einen Mithelfer, der in der Gestalt einer Taucherente oder eines anderen Seevogels hinter ihm auf der öden, weiten Wasserfläche herschwamm. Auf den Befehl des Gottes tauchte der Vogel dreimal hinab auf den Grund des Meeres und holte von dort ebensoviele Schlammklumpen herauf. Diese breitete der Gott auf der Oberfläche des Wassers aus, und daraus entstand die Erde.[1]

  1. Daher kommt es, dass luoda, schaffen, die ältere Bedeutung „werfen“ hat.
Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_132.png&oldid=- (Version vom 21.11.2023)