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worden ist. Wir müssen gleichwohl jetzt an dieser Stelle auf einen näheren Beweis für diese Thatsache verzichten, da er zuviel Raum erfordern würde, und begnügen uns nur mit dem Faktum, dass die ganze genannte Episode eine spätere, in Russisch-Karelien zugekommene Zuthat ist. Betrachten wir nun erst für sich gesondert den Anfang des Sampogesanges.

Hier ist, um damit zu beginnen, ein kleiner Nebenumstand zu beachten. In der neuen Ausgabe der Kalevala heisst der Feind Wäinämöinens Joukahainen, in der älteren wird er nur der „Lappe mit den blinzenden Augen“ genannt. Beide Lesarten stützen sich auf wirkliche Volkslieder. Der Unterschied beruht nur darin, dass die letztere die allgemeine und die offenbar ursprüngliche ist; die erstere kommt nur in wenigen Exemplaren vor und zeigt, wie das Volk schon angefangen hat, den ursprünglich vollständig freistehenden Gesang von dem Sängerwettkampf zwischen Wäinämöinen und Joukahainen in den grossen Cyklus hineinzuziehen, dessen Mittelpunkt vom Schmieden und Rauben des Sampo gebildet wird.

In der neueren Kalevala-Auflage ist es ausserdem die Tochter der Luft, nicht Wäinämöinen, welche die Welt erschafft. Zu dieser Änderung, wozu wenigstens die vorhandenen Volksgesänge nicht den geringsten Anlass geben, ist Lönnrot dadurch bestimmt worden, dass vom Lappen mit den blinzenden Augen erzählt wird, er habe einen langdauernden Hass gegen Wäinämöinen gehegt. Dass ein derartiger Hass vor der Erschafflung der Welt und dem Anfang der Zeit gewesen wäre, sah er mit Recht für wenig logisch an. Aber wenn sein Verfahren auch in ästhetischer Hinsicht gebilligt werden kann, muss doch die Wissenschaft die oben erwähnte Schwierigkeit auf eine andere, weniger willkürliche Weise zu lösen suchen. Und eine solche vollständig natürliche geben auch die Varianten beim ersten Blick zur Hand. Der Anfall gegen Wäinämöinen und die Erschaffung der Welt werden nämlich im nördlichen finnischen Karelien im Zusammenhange miteinander gesungen. Dagegen ist in Savalaks, im südlichen Teile des Wiborger Kreises, in Ingermanland und Esthland der Gesang von der Erschaffung der Welt aus dem Ei sehr verbreitet, aber er wird ausnahmslos immer für sich gesondert gesungen, und von dem Anfalle gegen Wäinämöinen hat man in den genannten Gegenden nicht die geringste Ahnung. Mit der Kenntnis des Verbreitungsweges der Gesänge müssen wir nun unbedingt zu dem Schlusssatze kommen, dass der nordkarelische Gesang eine spätere Zusammensetzung ist, und dass seine erste Hälfte eine relativ neuere Bildung ist. Das Unlogische in dem lange gehegten Hasse des Lappen gegen Wäinämöinen vor der Erschaffung der Welt rührt daher von der zufälligen Verschmelzung zweier besonderen Gesänge her. Untersucht man zuerst den ersteren Teil, um zu ergründen, woher er seinen Ursprung hat, so weisen schon die gedruckten Varianten für den aufmerksameren Beobachter einige in das Auge fallende Gleichheiten auf zwischen dem Attentat gegen Wäinämöinen und dem Gesange vom Tode Lemminkäinens. In beiden ist der Meuchelmörder ein weniger gut sehender (blinzelnder, blinder) Lappe, in beiden fällt der Geschossene ins Wasser. In den Handschriften findet man ausserdem mehrere andere Übereinstimmungen. In einer Variante stürzt Wäinämöinen hinab in Tuonelas Fluss, in einer anderen wird er durchs Herz

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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_131.png&oldid=- (Version vom 21.11.2023)