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Lust geweckt und die Brüder begeben sich auf die Raubfahrt; in Pohjola angekommen, unterhandelt Wäinämöinen über die Teilung Sampos; als dieser Vorschlag ihm abgewiesen wird, schläfert er das Volk von Pohjola ein, raubt den Sampo aus dem Berge und beginnt die Rückfahrt; — nachdem er mehrere Male vergebens aufgefordert ist, zu singen, was er nun doch für gefährlich ansieht, da sie noch nicht weiter von Pohjola entfernt sind, erhebt einer von den Kameraden seine Stimme und scheucht dadurch einen Kranich auf, dessen geller Schrei die Leute von Pohjola wieder aufweckt. Die Wirtin verfolgt die Räuber zuerst mit einem Schiffe, vollbesetzt mit bewaffneten Männern, und als dieses an einer von Wäinämöinen hervorgezauberten Klippe gescheitert ist, setzt sie ihre Verfolgung in Adlergestalt fort — ein Streit entsteht, in welchem Sampo in das Meer fällt und zerbricht — die Herrin von Pohjola bringt nur den bunten Deckel nach Hause, und infolgedessen ist nun das Leben in Lappland brotlos — Wäinämöinen fischt einige Trümmer des Sampo auf und gewinnt dadurch für sein Land die Urbarmachung, Saat und allerlei Getreide — die Herrin von Pohjola droht mit ihrer Rache, aber Wäinämöinen erklärt stolz, dass er sie nicht fürchte.

Vergleicht man nun diesen Gesang mit seinen westlichen Varianten, so steht uns sein Entstehen überraschend deutlich vor Augen. Auf der finnischen Seite wird er nämlich niemals in dieser umfassenden und zusammengesetzten Form gesungen. Hier finden wir anstatt dessen zwei gesonderte Gesänge, der eine den Anfall gegen Wäinämöinen und die Erschaffung der Welt, der andere die Schilderung vom Raube des Sampo enthaltend. Das mittlere Stück, der Besuch Wäinämöinens in Pohjola, sowie das Schmieden des Sampo mit allen dazu gehörigen Details, ist den finnländischen Sängern vollkommen unbekannt.

Nun könnte freilich behauptet werden, die beiden finnländischen Gesänge seien Fragmente, welche sich von dem ursprünglichen, vollständigen Sampoliede getrennt hätten. In diesem Falle müsste wohl doch irgend eine geringe Spur des vergessenen mittleren Teiles an einer der westlichen Varianten wenigstens haften. Es ist ja nicht denkbar, dass die Ausscheidung an allen Stellen auf eine so vollständig gleiche Art vor sich gegangen sei. Aber alle finnischen Varianten beobachten darin ein ebenso konsequentes wie offenbar beweisendes Stillschweigen, welches allein schon uns genügen könnte, auch wenn wir nicht den allgemeinen Gang der Ausbreitung der Gesänge kennen würden. Was speciell das hier in Betracht kommende Lied betrifft, sprechen ausserdem ein paar sprachliche Eigenheiten ebenso für einen Ursprung aus Finnland, und auf dieselbe Thatsache weist auch der Umstand hin, dass im Gouvernement Archangel immer von mehreren Eiern (drei bis acht) gesungen wird, in Finnland, Ingermanland und Esthland dagegen niemals von mehr als einem Ei, was auch ohne Zweifel das Natürlichere und Ursprünglichere ist, da es ja das Weltei ist, welches hier in Betracht kommt,

Eine nähere Untersuchung eines Teiles der Details in dem Mittelstücke zeigt ebenso, dass der Hauptbestand darin eine Variante des als besonderer Gesang existierenden Wettfreiens zwischen Wäinämöinen und Ilmarinen ist, und als solcher später durch verschiedene Zuthaten erweitert

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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_130.png&oldid=- (Version vom 21.11.2023)