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des Verbreitungsweges der Gesänge volles Recht. Wir wissen mit Gewissheit, dass die Runen nach Russisch-Karelien aus Finnland gekommen sind: wir können es als höchst wahrscheinlich annehmen, dass ein grosser Teil derselben nach dem östlichen Finnland aus den westlichen Landschaften gekommen ist; einige Kennzeichen in einem Teile der Gesänge geben uns Gewissheit darüber, dass die ursprüngliche Heimat derselben Ingermanland oder Esthland ist. Eine offenbare Folge hiervon ist, dass die Formen, welche wir im Westen oder Süden finden, älter sein müssen als die östlichen. In der That sehen wir auch zwischen ihnen einen merkbaren Unterschied; nach Norden und Osten zu sind sie mehr entwickelt, zusammengesetzt, im Westen und Süden sind sie einfacher und primitiver, eine Thatsache, die ein neuer starker Beweis für die oben entwickelte Ansicht von dem Wege der Verbreitung des Gesanges ist.

Nur im Gouvernement Archangel finden wir einen Ansatz zu einem wirklich einheitlichen Epos. Hier liess sich Lönnrot von einem alten Manne, Waassila Kieleväinen in Wuonninen, in einem Zusammenhange, ineinander eingeflochten, Teile aus der Beschwörung des Feuers, den Sampogesang, das Wettfreien zwischen Wäinämöinen und Ilmarinen, die Auffischung der Seejungfrau (Aino), das Schmieden der Goldbraut, den Gesang vom Sohne Kojos, und Kullervo vorsingen. Etwas öfter trifft man mit dem Sampogesang vereinigt: Die Entstehung der Kantele und das Spiel Wäinämöinens, die Fahrt nach Tuonela, das Wettfreien, die Goldbraut, sowie der Sängerwettkampf zwischen Wäinämöinen und Joukahainen. Doch auch in Russisch-Karelien ist nur die (höchstens 4—500 Verse enthaltende) Zusammensetzung gewöhnlich, welche dort der Gesang von Wäinämöinen genannt wird, für die jedoch der Name Sampogesang passender wäre. Der Inhalt desselben ist in Kürze folgender: Wäinämöinen reitet auf dem Meere auf dem Wege, sich nach Pohjola zu begeben — der Lappe mit den blinzenden Augen, der schon längst gegen ihn einen bitteren Hass genährt hat, schiesst auf ihn, trifft jedoch nur das Pferd — während Wäinämöinen auf den weiten Fluten umherirrt, legt eine Wildente (oder irgend ein anderer Vogel) einige Eier auf sein Knie — er zuckt zusammen, als er die Wärme empfindet, die Eier rollen hinab auf den Meeresgrund, wo sie zerbrechen, und aus ihren verschiedenen Teilen entstehen der Himmel mit Sonne, Mond und Sterne, sowie die Erde — durch seine Bewegungen im Wasser formt Wäinämöinen Buchten und Landzungen, Klippen und Inseln, sowie die tiefen, fischreichen Abgründe des Meeres — inzwischen treibt ihn der Wind nach Pohjola, woselbst die Herrin ihn nach Hause zu senden und noch dazu ihm ihre schöne Tochter zur Frau zu geben verspricht, falls er ihr das Wunderding Sampo schmieden wolle. — Wäinämöinen sagt, dass er selbst diese Bedingung nicht erfüllen könne, verspricht aber, seinen schmiedekundigen Bruder Ilmarinen zu schicken — nach seiner Heimkunft schaftt er mit Hülfe des Windes den widerstrebenden Schmied dorthin, nachdem er ihn auf die wolkenhohe Tanne genarrt hat, um das dort herumhüpfende Eichhörnchen zu fangen. Ilmarinen schmiedet den Sampo in Pohjola und erzählt bei seiner Rückkehr Wäinämöinen von dem glücklichen Leben, welches der neue Talisman dort hervorgerufen hat — dadurch wird Wäinämöinens

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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_129.png&oldid=- (Version vom 21.11.2023)