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Da ist des Gesanges Wort entsprungen,
Wo Kareliens beide Teile sich begegnen,
Mitten im Herzen von Russland,
Auf der Grenzmark, um die lange
Zwei grosse Reiche gekämpft.

Dürfte man der eigenen Angabe der Sänger glauben, so würde die gesuchte Urheimat des Gesanges demnach gefunden sein. Doch unglücklicherweise ist es nicht das erste wie auch nicht das letzte Mal, dass die prosaische Wissenschaft gezwungen ist, unbarmherzig die schimmernden Gewebe der Dichtung zu zerreissen.

Die hochnordische Natur der fraglichen Gegend passt nämlich kaum besser als die an den Ufern der Dwina mit den Schilderungen der Kalevala zusammen. Ein noch schwerer wiegender Einwurf ist der, dass die Kirchspiele, in welchen gegenwärtig der Gesang in Blüte steht, vor noch nicht gar zu langer Zeit eine volksleere Wildnis waren. Wie bekannt, erhielten die nördlichen Teile von Satakunda, Tavastland und Savolaks sowie die Kajanagegend nicht eher als in der Mitte des 16. Jahrhunderts ständige Bevölkerung in grösserer Menge.

Im Jahre 1500 war, nach den Aussagen russischer Grundbücher, das jetzige finnische obere Karelien, der nördliche Teil des damaligen Lehns von Kexholm, beinahe öde. Es ist undenkbar, dass um diese Zeit die mit Sumpf- und Heideland angefüllten östlichen Abhänge unserer Grenzberge, ganz ungeschützt, wie sie gegen die Winde des Eismeeres sind, früher bevölkert worden wären als die oben genannten weit glücklicher gelegenen finnischen Landschaften. Diese Annahme gewinnt auch durch ein historisches Zeugnis volle Gewissheit. Im Jahre 1581 unternahm Hermann Fleming einen Plünderungszug nach Russisch-Karelien. Nachdem er an den Ufern des Ladogasees geplündert und gebrandschatzt hatte, zog er direkt nach Norden, um eine Pallisadenburg zu zerstören, welche die Russen in Jyskyjärwi, in der nordwestlichen Ecke des Gouvernements Archangel, an der äussersten östlichen Grenze des jetzigen karelischen Sanggebietes, gebaut hatten. Da jedoch nach einigen Tagemärschen die Nachricht einlief, dass die Burg von den Russen selbst zerstört worden sei, beschloss er, nicht auf demselben Wege zurückzukehren, sondern direkt nach Kajana zu ziehen und von da innerhalb des eigenen Landes nach seiner Burg Nyslott. Aber alle, welche das Land kannten, erklärten einen solchen Marsch für unmöglich, weil auf der ganzen Strecke kein einziger Hof wäre, wo man Unterhalt für Menschen und Pferde hätte erhalten können. Der beabsichtigte Zug nach Kajana hätte nun gewiss etwas südlicher durch Repola gehen können; aber da die Russen später beim Friedensschlusse unter keiner Bedingung auf die Abtretung dieses Kirchspiels eingehen wollten, kann dasselbe wohl kaum eine Wildnis gewesen sein. Daher bleibt keine andere Annahme übrig, als dass Fleming etwas nördlicher seinen Weg genommen haben wird, mitten durch das jetzige Gesangsgebiet, welches somit zu der Zeit noch vollständig unbewohnt war.

Längs der Küste des Weissen Meeres gab cs freilich damals eine karelische Bevölkerung, die nunmehr russificiert ist, und es könnte möglich erscheinen,

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_123.png&oldid=- (Version vom 21.11.2023)