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Schliesslich würde es schwer fallen, den Überschuss der von der skandinavischen und litauischen Mythenwelt entliehenen Stücke, welche in der Kalevala vorkommen, mit der Hypothese zu vereinigen, das finnische Epos sei am Dwinafluss weiter ausgebildet worden. Der Einfluss der letzt genannten Nachbarn konnte sich natürlich auf keine Weise soweit erstrecken. Mit den Skandinaviern hatten die Bewohner Permiens gewiss einigermassen Berührung, die aber gleichwohl nicht derart war, dass ein Austausch von Traditionen in grösserem Masse hätte stattfinden können. Die Züge nach dem Bjarmenlande scheinen sehr selten gewesen zu sein, und ausserdem wurde die Zeit der Vikingar während ihres Aufenthaltes an den Ufern der „Vina“ offenbar so durch Krämerei und Plünderei in Anspruch genommen, dass ihnen kaum noch etwas von ihr übrig blieb zur Verbreitung von Gesängen oder Sagen. Die Aufnahme von fremdem Stoffe in der unglaublichen Menge, wie sie uns eine Prüfung der Kalevala aufweist, setzt einen längeren täglichen Verkehr mit dem Volke voraus, bei welchem die Anleihe gemacht worden ist.

Wir können, wie hieraus hervorgeht, ruhig die Hypothese beiseite liegen lassen, und uns zu einer anderen sehr allgemeinen wenden, dass nämlich das russische Karelien, wo die meisten und vollständigsten Kalevalagesänge entdeckt wurden, auch deren Wiege gewesen sei.[1]

Aber hiergegen spricht der wichtige Umstand, dass der Runengesang den Einwohnern des grössten Teiles von Russisch-Karelien vollständig unbekannt ist. Unter den Wepsern, deren Wohnsitze in Form eines schmalen Gürtels das westliche Ufer des Onegasees umgeben, ist nur ein oder das andere verirrte unbedeutende Fragment angetroffen worden. Bei dem Liwwistamme, welcher zwischen den Wepsern und dem Ladogasee wohnt, sowie bei den eigentlichen Kareliern im nördlichen Teile des Gouvernements Olonetz, trifft man die Gesänge in etwas reichlicherem Masse an, doch einzig und allein in den der finnischen Grenze am allernächsten liegenden Kirchspielen, und dort versichern oft die Sänger, dass sie ihre Kunst von der finnischen Seite her haben, wobei die ganze Form der Gesänge beweist, dass diese Behauptung daselbst sehr allgemeine Giltigkeit hat.

Nur im nordwestlichen Winkel des Gouvernements Archangel ist der Gesangsgürtel viel breiter im Osten, und dort ist auch der Hauptbestand des jetzigen Inhaltes der Kalevala entdeckt worden. Merkwürdigerweise wird gerade in derselben Gegend ein Gesang vom „Aufkommen des Gesanges“ gesungen. Er fängt mit einer Frage an:

Wo ist des Gesanges Wort entsprungen,
Wo hat der Sänger wohl erblickt des Tages Licht?

Und diese Frage wird folgendermassen beantwortet:

  1. Bei Lönnrot und Ahlquist fallen diese beiden Hypothesen insofern zusammen, als sie sich die vormaligen Wohnsitze der Kareler bis an die Dwina sich erstreckend gedacht haben.
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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_122.png&oldid=- (Version vom 21.11.2023)