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bei der Redaktion machte man sich keinen klaren Begriff, aber man stellte sich vor, er habe sich einzig und allein darauf beschränkt, in der zum Haupttexte erwählten vollständigsten Variante passende Stellen aus den übrigen weniger vollständigen einzuschalten, sowie die hier und da entstehenden Lücken mit einigen Zeilen aus seiner eigenen Feder auszufüllen. Ausländische Gelehrte dagegen sind zuweilen zu dem entgegengesetzten Äussersten gegangen. So behauptet z. B. Steinthal die Erklärung erhalten zu haben, Lönnrot habe in seiner Kindheit die Gesänge singen hören und dann erst als Mann im mittleren Alter sie aus dem Gedächtnisse niedergeschrieben, wobei es natürlich mit der Autenticität nicht weit her wäre.

Nunmehr hat man endlich durch genaue Kritik der Handschriften, welche Lönnrot für seine Ausgabe verwandt, und durch Vergleichung derselben mit neueren Sammlungen nahezu klarlegen können, wie die Kalevala zusammengesetzt ist und welche Teile bei der Zusammenfassung hinzugefügt worden sind. Dabei sehen wir nun, dass diese Zuthaten recht bedeutend sind, obwohl ihre Anzahl und Grösse sehr ungleich in den verschiedenen Gesängen ist. Zuvörderst entnahm Lönnrot natürlich den epischen Gesängen, welche ein und denselben Stoff behandelten, alle Details, welche in dem zu Grunde gelegten vollständigsten Gesange fehlten und welche die Schilderung lebhafter und ausführlicher machen konnten. Zweitens fügte er bei jeder Gelegenheit, wo irgend eine Zauberei in Betracht kam, den dabei gewöhnlich gebrauchten Zauberspruch in seiner ganzen Länge bei, obgleich die epischen Sänger gewöhnlich nur einige wenige charakteristische Verse aufnehmen oder auch dem Sammler verkünden: „nun folgt die und die Zauberrune“, ohne sie gleichwohl ihm vorzusingen. Ferner hat unser Rhapsode an unzähligen Stellen die ästhetische Wirkung des Gesanges erhöht durch Einflechtung von grösseren und kleineren Stücken aus lyrischen Gesängen. Ebenso hat er auch oft mit Veränderung des Namens des Helden oder der Heldin mit dem epischen Gesange grössere oder kleinere Stücke aus Balladen und anderen, nicht eigentlich zum Kalevala-Cyklus gehörenden, epischen Gesängen einverleibt. Durch derartige Veränderungen hat er auch manche alte Gesänge näher miteinander verbunden, welche bestimmt zu dem obengenannten Cyklus gerechnet werden müssen, aber demungeachtet im Volksgesange noch nicht vollständig damit sich haben verschmelzen können. Eigene von Lönnrot selbst verfasste Verse kommen relativ betrachtet nicht in allzugrosser Menge vor, da er, auch wo er ein verbindendes Zwischenglied für notwendig ansah, es meistenteils aus Versen zusammengesetzt hat, welche hier und da aus allen möglichen Volksgesängen entnommen waren.

Um einen richtigen Begriff darüber zu geben, wie Lönnrot hierbei zu Werke ging, will ich die 10te Rune der Kalevala genau analysieren und in ihre Bestandteile zerlegen. Der Grundbestandteil des Liedes folgt hauptsächlich dem Gesange (Angabe) eines der namhaftesten Sänger des russischen Kareliens, des Ontrei Malinen in Vuonninen,[1] aber mehr oder

  1. Recht oft sind Lönnrots eigene Interpolationen an sprachlichen Incorrectheiten wiederzuerkennen, wie Professor Ahlquist es neulich in einer verdienstwollen Abhandlung nachgewiesen hat.
Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_118.png&oldid=- (Version vom 21.11.2023)