Seite:Zeitschrift für Volkskunde I 027.png

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

auf den Weg, um die Mitternachtsstunde ja nicht neben der Toten sitzen zu bleiben, vielmehr die erste Nacht hinter dem Altar, die zweite unter dem Altartuch, die dritte aber in dem Kasten zuzubringen, in welchem die Kirchengeräte waren. Der Bursche merkte sich die Vorschrift wohl und ging hin, wo er das Kirchlein fand.

Als nun der Abend nahte, zündete er eine dicke Wachskerze an, nahm ein grosses Gebetbuch zu Händen und betete und sang fleissig über den starren Leichnam. Als aber Mitternacht nahte, da kroch er schnell hinter den Altar und harrte der Dinge, die da kommen würden.

Kaum war der schwere dumpfe Schlag der Turmuhr, welche die zwölfte Stunde verkündet hatte, verklungen, da kratzte und bewegte es sich in dem Sarge, nach und nach hob sich die Tote langsam empor und sah sich nach dem Sänger um. Als sie ihn nicht gewahr wurde, begann sie wütend die Kirche zu durchstöbern, nur vom Altare hielt sie sich fern. Als sie den Gesuchten nicht fand, stieg sie wieder in den Sarg und versank in ihren früheren Zustand. Der Gerettete kam nun aus seinem Verstecke hervor und setzte seine Andachtsübungen bis zum hellen Morgen fort.

So ging es auch in der nächsten Nacht zu. Gefährlicher sollte aber die Lage des Kirchensängers in der letzten Nacht werden. Er war nämlich, wie es ihm die Alte vorgeschrieben hatte, in den heiligen Kasten gestiegen und hatte denselben von innen fest verschlossen; dann drückte er sein Auge an ein Astloch und beobachtete den Sarg bei den Schein der Kerze.

Da erhob sich genau um dieselbe Zeit, wie in den früheren Nächten, die Tote aus ihrem engen Gehäuse, sucht mit ihren starren Blicken nach dem Sänger, streifte in dem öden Raume umher, bis sie sich endlich auch dem Kasten näherte und an dem Geruche merkte, dass ein lebendes Wesen darin verborgen sei. Doch der geweihte Kasten war ihrer Macht entrückt. Da sprach sie eine furchtbare Zauberformel vor sich hin: plötzlich begann es von allen Seiten zu schwirren und zu brausen und durch Fenster und Thüren kamen junge und alte Hexen herbei, begrüssten die tote Schulzentochter als ihre Meisterin und Königin und stellten sich um sie im Kreise herum. Diese legte nun den Hexen die Frage vor, wie man dem Verborgenen beikommen könnte. Doch jede schüttelte verneinend den Kopf, keine wusste Rat.

Da plötzlich kam jenes alte Weib herein, welches den Sänger beherbergte; auf ihren Armen trug sie ein neugeborenes Kind, bei dessen Anblick die anwesenden Hexen ehrfurchtsvoll erzitterten. Das Kind war nämlich die neue Königin alle der Zauberweiber; dasselbe sollte die Hingeschiedene vertreten: obgleich noch ein Kind, war es keinesfalls so harmlos, wie man erwarten mochte. Kaum hatte es nämlich die Thatsache, um die es sich handelte, erfahren, so befahl es vor dem Astloche des heiligen Kastens dies und jenes Hexenkraut in Flammen zu setzen. Schnell stoben die Hexen auseinander, um das gewünschte zu holen, ehe sie aber wieder kamen, krähte der Hahn, die Hexen verschwanden, die Tote kehrte in ihren Sarg zurück und der Kirchensänger war gerettet.

Wann er gestorben ist, wissen wir nicht, denn man vergass zuletzt die Zeit, wann er geboren war.

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_027.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)